Sie schweigt und verzieht keine Miene. Sehej schaut ratlos in das Gesicht ihrer neuen Vermieterin. Ist das ernst gemeint? Eben noch wohnte sie in einem großen Haus in einem schicken Viertel Neu-Delhis. Nun ist sie in Deutschland angekommen, in Bonn. Und die Vermieterin zeigt ihr ein winziges Zimmer, oben auf dem Dachboden. Vier Wände, aber keine Zimmerdecke. Keine Heizung. Keine Fenster. Für 450 Euro.
Chancengerechtigkeit
Ausgebremst

Mehr als 300.000 ausländische Studierende
Immer mehr junge Menschen kommen zum Studieren nach Deutschland. Inzwischen sind es mehr als 300.000 und damit etwa dreimal so viele wie noch vor zwanzig Jahren, wie aktuelle Statistiken zeigen. Aber viele brechen ihr Studium in den ersten Jahren ab. Später fehlen sie als gut qualifizierte Fachkräfte. Und jedes Mal ist es ein persönliches Drama.
Die ersten Monate sind für Sehej wie eine holprige Bootsfahrt Richtung Wasserfall. Ihre Mutter in Indien wird schwer krank. Monatelang können sie nicht telefonieren. Langsam wird ihr Vater ungeduldig. Er hat viel Geld bezahlt und nun brauche Sehej zu lange für ihren Deutschkurs. „Er sagte schon nach ein paar Monaten, ich solle zurück nach Indien kommen.“ Erst als es der Mutter besser geht, kehrt auch das Vertrauen des Vaters zurück. Und Sehej beißt sich durch. Nach einem halben Jahr kann sie sich schon auf Deutsch unterhalten.
„Ich fühlte mich hier überhaupt nicht willkommen.“

Geldsorgen und Verständigungsprobleme

Viele Studierende aus dem Ausland haben Geldsorgen. Wer von außerhalb der EU kommt, muss nachweisen, dass er sich das Leben hier leisten kann. Das geht oft nur über ein Sperrkonto. Dort hinterlegen die Eltern das Geld für ein Jahr. Sehej darf höchstens 720 Euro pro Monat abheben. Ziemlich wenig Geld für ein Leben in Deutschland. Um an das gesperrte Geld zu kommen, braucht sie außerdem eine Wohnung und muss hier gemeldet sein. Aber eine Wohnung bekommt man nur, wenn man genug Geld hat. Für viele Studierende ist das oft ein Teufelskreis an Problemen. Sehej schafft es und findet eine neue Wohnung.
Nach dem Deutschkurs geht Sehej nach Magdeburg. Sie besucht dort ein Jahr lang ein Studienkolleg, um sich auf die Uni vorzubereiten. Die indische Hochschulreife wird in Deutschland meist nicht anerkannt. Ausländische Studierende müssen dann ein Studienkolleg besuchen. Sehej gilt dort schnell als äußerst begabt. Immer öfter bitten die Lehrer sie, schwierige Aufgaben an der Tafel vorzurechnen. Sehej besteht das Studienkolleg mit Bravour und bewirbt sich an der Humboldt-Universität in Berlin.
Zeitraubende Wohnungssuche
Nach Sprachschule und Studienkolleg beginnt das eigentliche Studium. An der Humboldt-Uni gibt es viele Angebote für ausländische Studierende. So hat Sehej im ersten Semester einen Mentor, der ihr hilft, sich besser an der Uni zurechtfinden. Nachdem sie eingeschrieben ist, erfährt sie aber, dass sie sich selbst eine Wohnung suchen muss. Das kostet Zeit, die sie eigentlich für das Studium bräuchte. Ein Riesenproblem, findet Sehej. Die Universitäten machten viel Werbung im Ausland und wenn die Studierenden dann kämen, fänden sie keine Wohnung. Sie sollten deshalb eher das Recht auf einen Wohnheimplatz haben, findet Sehej.
Die Hochschulen kennen das Problem, so Mathias Winde vom Stifterverband. „Sie sind sehr bemüht, aber es gibt einen Mix an Zuständigkeiten.“ Um Wohnungen für ausländische Studierende zu finden, sind sie auf die Zusammenarbeit mit Behörden, Studentenwerken und Wirtschaftsverbänden vor Ort angewiesen. Ein Beispiel, wie so etwas aussehen kann, ist die Uni Bremen. Dort bekommen alle Studierenden von Partnerunis ein Zimmer angeboten, drei Monate vor ihrem Studienstart in Deutschland.
Nachhilfe auf YouTube

„Es gibt viele hervorragende Wissenschaftler hier. Aber viele sind schlechte Lehrer.“
Heute studiert Sehej Informatik. Als eine von ganz wenigen Frauen gehört sie zu den besten ihres Jahrgangs. Sie ist heute viel selbstbewusster als noch vor zwei Jahren. Berlin sei eine tolle Stadt. Man könne hier sehr frei leben. Einmal saß ein Student im Einhornkostüm mit ihr in einer Vorlesung. Und es war kein Problem. Aber Sehej sieht inzwischen auch die Schattenseiten.
„Es gibt viele hervorragende Wissenschaftler hier. Aber viele sind schlechte Lehrer.“ In Indien wäre es Professoren peinlich, wenn die Mehrheit ihrer Studierenden durch eine Prüfung fallen würde. In Deutschland sähen das manche Professoren als Kompliment. Das ärgert Sehej. Sie besucht weiter die Seminare. Aber sie lernt anschließend noch einmal auf YouTube – von Professoren aus der ganzen Welt, die oft besser erklären können.
Wenn man sie fragt, ob sie das Studium hier Freunden in Indien empfehlen würde, zögert sie. Sie will nicht, dass jemand durchmacht, was sie erlebt hat. „Ich empfehle Deutschland nicht. Ich sage nur: Du musst wissen, was du willst.“ Die Freiheit hier ist groß, aber ebenso groß ist das Risiko zu scheitern.
