Mit dem Ausbruch und der rasanten Verbreitung des neuartigen Coronavarius SARS-CoV-2 und der Krankheit COVID-19 kommen vielfältige Krisenpläne zum Einsatz beziehungsweise werden diese gerade erst entwickelt. Neben den wichtigsten medizinischen Informationen gibt es auch einen zunehmenden Bedarf an Tipps und Konzepten für die Sicherstellung schulischen Unterrichts und hochschulischer Lehre. Schnell werden Listen erstellt und Unterstützungspakete für die Fernlehre geschnürt, damit Lehrende weiterhin handlungsfähig bleiben.
Es ist zum jetzigen Zeitpunkt (Mitte März 2020) nicht absehbar, wie sich die medizinischen Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung von COVID-19 auswirken werden, und Spekulationen machen an dieser Stelle keinen Sinn. Stattdessen möchte ich in dieser Kolumne darauf eingehen, was in Bezug auf Lernen und Lehre durch die Pandemie sichtbar wird und welche Aussagen daraus für die digitale Bildung in Deutschland abzuleiten sind.
Beginnen möchte ich mit den unmittelbaren Reaktionen. Um die Gefahr der Ansteckung zu minimieren, wird der Start des Sommersemesters 2020 auf den 20. April verschoben, werden die Osterferien verlängert und Schulen und Kindertagesstätten komplett geschlossen. Um zu verhindern, dass Unterricht und Lehre ausfallen, wird der Umstieg auf Online- beziehungsweise Fernlehre empfohlen. Auf der Webseite des Hochschulforums Digitalisierung gibt es eine laufend aktualisierte Linkliste mit Hinweisen, was getan werden kann, wenn die Uni dichtmacht.
Lernorte
Aus der Not eine Tugend gemacht
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Digitales Tagebuch des Dr. D.: Zwölfter Eintrag, März 2020
„Die Bilanz des E-Learnings ist ernüchternd. Es fehlt an digitalen Inhalten, Methoden und didaktischen Formaten, um nun flächendeckend Lehre durchführen zu können.“

Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage angelangt. Wenn Präsenzhochschulen gerade versuchen, ihre Lehre aus der Ferne zu organisieren, dann haben sie – und nicht die Fernhochschulen - einen strukturellen Nachteil. Es fehlt schlicht an Expertise über didaktische Konzepte und technische und organisatorische Infrastruktur. Das sieht man daran, wie die „digitalen Hilfspakte“ formuliert sind. Es geht um einen schnellen Einstieg in die digitale Lehre, um die ersten Schritte auf dem Weg in die digitale Bildung.
Notprogramm statt durchdachter digitaler Lehrkonzepte
Ist das nicht erstaunlich angesichts der vielen E-Learning-Fördermaßnahmen seit den 1990er-Jahren? Damals sprach man von der Virtuellen Hochschule und übertrug Vorlesungen an mehrere Standorte in einem Bundesland. Später wurde das Programm „Neue Medien in der Bildung“ mit viel Geld ausgestattet und strebte eine „dauerhafte und breite Integration“ in die Studiengänge an. Parallel dazu entstanden E-Learning-Einrichtungen an den Hochschulen sowie gebündelt als Landesinitiative wie zum Beispiel der Virtuelle Campus Rheinland-Pfalz (VCRP). Die Bilanz des E-Learnings ist jedoch ernüchternd. Das wird gerade durch die Corona-Krise deutlich. Es fehlt an digitalen Inhalten, Methoden und didaktischen Formaten, um nun flächendeckend Lehre durchführen zu können. Darum kann es jetzt auch nur um ein „Notprogramm“ gehen, mit dem die Zeit, bis der Lehrbetrieb wieder aufgenommen wird, überbrückt wird.
Aber auch bei den Fernlehreinrichtungen stagnierte die Entwicklung seit dem Aufkommen von E-Learning. Sprach man in den 1980er-Jahren noch vom „Betriebssystem FernUniversität“ mit mehreren Funktionskomponenten, die von einer integrierenden Organisation zusammengehalten und gesteuert wurden, so wurde ab Mitte der 2000er-Jahre das Lernen von einer Webplattform gemanaged. Diese Learning-Management-Systeme (LMS) wurden sehr populär - an allen Hochschulen gleichermaßen -, weil sie sehr viele Funktionen unter einem Dach anbieten. Damit wurde der Weg frei für ein neues Standardmodell der Lehre, das Online- und Präsenzphasen miteinander mischt: Blended Learning. Es gibt verschiedene Modelle, wie die Phasen miteinander verschränkt werden können, etwa das umgedrehte Klassenzimmer. Inwieweit dadurch Lehre tatsächlich verändert und innoviert wird oder nur digital fortgeführt wird, was sich im analogen Raum bewährt hat, ist eine Frage, die ich in der vorangegangenen Ausgabe meiner Kolumne behandelt habe.
Deutlich wird das Beharrungsmoment im Zusammenhang mit den Lernplattformen. Hier geht es eigentlich nicht um das Lernen, sondern um die Verwaltung der Lehre. Strukturen wie fester Klassenverband und die strenge zeitliche Taktung werden beibehalten und damit Lernpotenziale, die sich aus der Struktur des offenen World Wide Webs ergeben, nicht genutzt. Prominentes Beispiel der vergangenen Jahre waren die als „digitale Bildungsrevolution“ vermarkteten Massive Open Online Courses (MOOCs), die sich stark an den Formaten Seminar und Vorlesung anlehnten. Dagegen stehen Lernformen, die das Internet ernst nehmen und dies didaktisch berücksichtigen. Ein Beispiel ist der OpenCourse 2011, der auf vernetztes Lernen setzte und dazu die verschiedenen Werkzeuge (Twitter, Blogs, RSS-Feeds) nutzte. Es blieb jedoch bei ein- bis zweimaligen Experimenten, die eher an der Peripherie der Hochschule liefen und sich kaum auf den Kern der Lehre auswirkten.
So bleibt E-Learning nur ein Zusatz, der die analog gedachte Lehre unterstützt. Dafür gibt es seit vielen Jahren Werkzeuge und „Tools“, die das Lernen mit digitalen Elementen wie Animationen oder kleinen Quizze anreichern. Es ist eine Baukastenlogik, die dahintersteckt und suggeriert, dass es für jedes Problem auch eine (technische) Lösung gibt.
„Die große Bedeutung von Medien für Bildung erschöpft sich nicht in der Verwendung von iPads, Lernapps und Lernplattformen, sondern geht auch auf die Bedeutung von Medien für unser Welt- und Selbstbild ein.“

Wenn - hoffentlich bald - in der Nach-Corona-Zeit die Lehre wieder regulär an den Hochschulen weitergeht, wird es auch wieder ein Zurück in die vordigitale Zeit geben. Es ist dann nicht mehr notwendig, soziale Präsenz durch E-Learning zu ersetzen. Aber notwendig wird sein, sich grundsätzlich über Medien und deren Möglichkeiten Gedanken zu machen. Dafür ist die aktuelle Zeit ein guter „Testlauf“, weil erkennbar wird, was gut und was weniger gut funktioniert und was es braucht, um digitale Bildung wirklich nachhaltig an Hochschulen zu verankern.
