Europas Innovationslücke – was Deutschland jetzt tun kann

 
Andrea Frank, stellvertretende Generalsekretärin des Stifterverbandes, teilt die Diagnose zur europäischen Innovationslücke aus dem Draghi-Bericht. Sie fordert eine "kleine Revolution" der Innovationsförderung. Weniger Alleingänge und eine klügere Arbeitsteilung könnten die Wettbewerbsfähigkeit der EU entscheidend verbessern.

Erstveröffentlichung in Table.Research am 17. September 2024

 

Der Draghi-Report legt den Finger in die Wunde. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas verblasst. Die Produktivitätslücke zu den USA wächst weiter. Der technologische Wandel beschleunigt sich und Europa hinkt bei neuen digitalen Technologien hinterher. Die geopolitische Stabilität schwindet. Die Abhängigkeiten werden zu Schwachstellen, die Herausforderungen in den Bereichen Energieversorgung und Sicherheit nehmen zu.

Nach der Lektüre des Draghi-Reports bleibt ein wesentlicher Eindruck: Wir beobachten in Europa – und auch bei uns in Deutschland – nicht bloß konjunkturelle Schwankungen, sondern wir erleben strukturelle Umbrüche, die Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft grundlegend verändern werden. Denn für Deutschland, die größte Volkswirtschaft in der EU, sind die Entwicklungen auf europäischer Ebene hochrelevant.

 

Die Innovationslücke und mögliche Handlungsoptionen

Schauen wir auf die Innovationslücke und mögliche Handlungsoptionen für die Politik. Drei ausgewählte Beobachtungen des Berichts, die auch in Deutschland interessieren müssen.

  • Erstens: Geringe Anzahl großer Technologieunternehmen. Der wesentliche Grund für die Produktivitätslücke zu den USA sind deren Erfolge in digitalen und aufstrebenden Deep-Tech-Technologien. Rund 70 Prozent der Foundational AI Models wurden seit 2017 in den USA entwickelt. Und der Blick in die privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung zeigt: In den USA sind die Top-Investoren mittlerweile nicht mehr im Automobil- oder gar Pharma-, sondern im Technologiesektor angesiedelt. In Europa dominieren weiterhin Automobilunternehmen die Liste der Top-Investoren in Forschung und Entwicklung.
  • Zweitens: Mangelnde Kommerzialisierung von Innovationen. Europas Grundlagenforschung und Patentaktivitäten sind zwar noch wettbewerbsfähig – 17 Prozent aller globalen Patente im Jahr 2021 entstanden in Europa (USA: 21 Prozent; China: 25 Prozent). Aber es fehlt an europäischen Hochschulen in der Weltspitze, und die Verwertung des Wissens bleibt weit hinter den Möglichkeiten – nur ein Drittel der Patente in Europa wird kommerziell verwertet.
  • Drittens: Fehlender Fokus auf Disruption und Fragmentierung in der europäischen Forschungs- und Innovationsförderung. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegen die Forschungs- und Innovationsausgaben aller EU-Regierungen zusammen gleichauf mit den USA, aber nur etwa ein Zehntel wird auf europäischer Ebene gemeinsam investiert. Und während die EU im Jahr 2024 gut 256 Millionen Euro für disruptive Innovation ausgibt (EIC Pathfinder), investierten die USA ganze 6,1 Milliarden US-Dollar (DARPA und "ARPAs").

Alle drei Ergebnisse illustrieren: Mit kleineren Konjunkturmaßnahmen, mit Aufstockung von Förderbudgets oder der Entwicklung einzelner Fördermaßnahmen werden wir keinen Unterschied machen. Es braucht mindestens eine kleine Revolution. Denn die strukturellen Herausforderungen erfordern ein Neudenken der Forschungs- und Innovationspolitik und damit neue Prioritäten. Von BDI bis zum Start-up-Verband – aktuell werden viele Analysen und Empfehlungen öffentlich. Die Ergebnisse spiegeln diesen grundsätzlichen Eindruck in unterschiedlichen Facetten wider.

Wie können wir also Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft wieder stärken – in Deutschland und Europa? Diese Frage gilt es jetzt zu lösen. Ich glaube, wir müssen stärker gemeinsam wirken, in Bildung, Wissenschaft und Innovation. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und das auf allen Ebenen.

Die strukturellen Herausforderungen erfordern ein Neudenken der Forschungs- und Innovationspolitik und damit neue Prioritäten.

Andrea Frank (Foto: David Ausserhofer)

Andrea Frank

Stellvertretende Generalsekretärin des Stifterverbandes

Rolle definieren, Prioritäten schärfen und Transferoffensive initiieren

  • Rolle Deutschlands und Europas bei aufstrebenden Technologien wie KI klären: Auf dem Gipfel für Forschung und Innovation 2024 haben wir am Beispiel von Künstlicher Intelligenz gemeinsam mit Wirtschaft, Wissenschaft und Politik diskutiert, wie Deutschland und Europa bei neuen Technologien den Anschluss halten können. Zwei wesentliche Botschaften: KI prägt zukünftig Politik und Öffentlichkeit. Nicht nur für die Wertschöpfung, sondern auch für die Demokratie mit starken europäischen Werten braucht es technologische Souveränität in Europa. Deshalb müssen wir national und europäisch den Aufbau von KI-Basismodellen unterstützen, die Folgen des AI Acts zeitnah evaluieren und – wo nötig – anpassen, um gerade das Potenzial einer industriellen Anwendung von KI in Deutschland weiter auszubauen. Vertikale KI-Modelle in Schlüsselsektoren wie der Automobilindustrie, dem Gesundheitswesen und der Energiewirtschaft sind ein wichtiger Start. Dafür brauchen wir zwingend eine kluge Bündelung der Ressourcen (Kapital, Talente, Regulierung) in einer europaweiten KI-Strategie – statt nationaler Einzellösungen. Und wir müssen dafür sorgen, dass aus Strategien umsetzungsorientierte Roadmaps werden. Was es indes nicht braucht, sind Alleingänge einzelner Bundesländer, wie sie in Deutschland immer wieder zu beobachten sind.
     
  • Prioritäten deutlich schärfen, Steuerung neu denken – auch in Deutschland: In 2021 haben Bund und Länder insgesamt gut 37 Milliarden Euro ausgegeben für Forschung und Innovation – immer für ähnliche Schwerpunkte und in vergleichbarer Weise, aber ohne gemeinsame Zielsetzung oder Synergien bei der Gestaltung von Förderprogrammen. Das gilt insbesondere für die stark übergreifenden Bereiche von Logistik und Mobilität, Digitalisierung und KI sowie für Gesundheit und Medizin – so das Ergebnis einer aktuellen Studie zu Kooperativer Innovationspolitik. Auf Bundesebene sehen wir neben der Zukunftsstrategie knapp 100 strategieähnliche Maßnahmen über alle Ressorts hinweg und mindestens drei einschlägige Beratungsgremien. Ausgehend von nationalen Zielsetzungen muss endlich Priorisierung, Beratung, Förderung und Steuerung neu gedacht werden. Hier spielt neben der Entbürokratisierung auch eine kluge Arbeitsteilung mit Europa eine wichtige Rolle. Der Draghi-Report gibt dafür Anregungen.
     
  • Initiierung einer europäischen Transferoffensive: Die Umwandlung von Forschungsleistungen in kommerzialisierbare Geschäftsmodelle und Produkte macht den Forschungstransfer zum zentralen Treiber von Wertschöpfung und gesellschaftlichem Wandel. In Deutschland wird die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Partnern jedoch durch fragmentierte Förderlinien mit variierenden Volumina und Trägern, bürokratische Prozesse und haushaltsrechtliche Vorgaben an Hochschulen erschwert. Damit das Wissenschaftssystem in der Lage ist, wachstumsstarke, forschungsbasierte Spin-offs und mehr Innovationen hervorzubringen, muss die Innovationsorientierung in der Wissenschaft weiter zunehmen und der Forschungstransfer zu einer zentralen Mission der Hochschulen werden. Dazu braucht es langfristige Finanzierungsstrategien, Impulse sowohl zu Generierung von mehr IP an Hochschulen sowie einfache, transparente und rechtssichere Regelungen zum Transfer von geistigem Eigentum. Und es braucht eine gelebte Durchlässigkeit von Wissenschaft und Wirtschaft, die es Forschenden ermöglicht, Grundlagenforschung und Technologieentwicklung in beiden Welten zu verbinden.

Draghis Analyse gibt wichtige Impulse, sie sind ein Weckruf. Wir müssen unsere Prioritätensetzung in der Forschungs- und Innovationspolitik neu denken. Ein "Weiter so" scheint weder für den Deutschland noch für Europa eine Option.