Heinz-Peter Meidinger: Selbstverwirklichung als Bildungsziel

"Wir haben in der Vergangenheit leider eine sehr einseitige Orientierung auf das Abitur gehabt als Kennzeichen eines erfolgreichen Bildungswesens."

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Hohe Studienabbrecherquoten und Facharbeitermangel: Bei der Berufsorientierung in Deutschland läuft anscheinend gehörig etwas schief. Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, meint: Eine handwerkliche Berufsausbildung darf nicht länger im Schatten des Studiums stehen. Es sei ein Irrtum, dass ein erfolgreicher beruflicher Weg nur mit Abitur möglich ist.

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Transkript des Videos

Bildung soll der Selbstverwirklichung dienen. Es soll das sein, was ich wirklich machen will. Und die hohen Studienabbruchquoten, die wir in Deutschland haben, 40 Prozent teilweise in den Bachelor-Studiengängen, sprechen ja nicht dafür, dass wir die richtige Bedarfs- und Bildungssteuerung in Deutschland haben.

Es ist natürlich ein riesendickes Brett, dass es da zu bohren gilt, das heißt, die berufliche Orientierung, auch die Studienorientierung an allen Schulen zu verbessern. Ich glaube, wir sind hier noch nicht soweit vorangeschritten wie es wünschenswert wäre. Das heißt, wir brauchen eine Studien- und Berufsorientierung über die gesamte Schulzeit hinweg. Wir fangen viel zu spät an damit, meistens erst so um die neunten, zehnte Jahrgangsstufe, wo das in den Blick kommt. Wir müssten permanent, ich glaube, von Anbeginn der weiterführenden Schularten immer wieder diese Frage der beruflichen Orientierung, der Selbstdiagnose, der Interessens- und Begabungsfindung permanent mit den Schülern zusammen gehen, viel mehr externe Experten auch, Berufsexperten, in die Schule holen und auch als Lehrkräfte stärker den Blick auch über die Schule hinaus richten.

Also, was wir in Deutschland wirklich vermissen, das ist, dass es an Schulen sozusagen Gatekeeper, also Ansprechpartner gibt, die mit ihren beiden Füßen in beiden Bereichen stehen, also, an der Schule, in der Schule, aber auch im beruflichen Leben. Wir haben Beratungslehrer an den Schulen, das sind aber Lehrkräfte. Wir haben eine Berufsbildberatung der Bundesagentur für Arbeit, die stehen aber ausschließlich sozusagen auf der anderen Seite. Und es gibt Länder, die haben solche Leute, also Gatekeeper, die an der Schule, aber in Verbindung mit Firmen, mit Studiengängen, mit Universitäten, aber eben auch mit vielen Betrieben Schüler permanent beraten, die auch begleiten über ihre Schulzeit hinweg, immer wieder mit ihnen Gespräche führen. Da, glaube ich, könnten wir tatsächlich noch was lernen und unsere Berufsorientierung deutlich verbessern.

Ich glaube, dass wir eine zu starke Fixierung haben auf das Abitur. Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur. Wir haben sehr viele andere Wege, die übrigens auch zur Hochschule führen, teilweise auch ohne Abitur. Und ich glaube, wir sollten wieder mehr alle Bildungswege in den Blick nehmen und nicht zu stark auf das Abitur starren und das Abitur zum Maßstab des Bildungserfolgs alleine machen.

Wir haben in der Vergangenheit leider eine sehr einseitige Orientierung auf das Abitur gehabt als sozusagen Kennzeichen eines erfolgreichen Bildungswesens. Das hängt auch mit den OECD-Studien zusammen, also PISA oder TIMSS, wo ja auch dann ganz stark darauf der Fokus gelegt wurde, wie hoch ist die Quote der Hochschulzugangsberechtigten, und es ist der Eindruck vermittelt worden, die Wirtschaft profitiert am meisten, wenn möglichst viele Abitur machen. Wir wissen mittlerweile, dass das nicht der Fall ist. Wir haben hier eine Fehlsteuerung. Wir haben einen größeren Facharbeitermangel als wir einen Akademikermangel haben, auch in den naturwissenschaftlichen Fächern. Die Facharbeiterlücke ist eigentlich das große Problem des deutschen Bildungs- und Beschäftigungswesens, weil Akademikermangel kann man sozusagen durch Werbung in anderen Ländern von Studienberechtigten ausgleichen, während Facharbeitermangel ganz schwer ausgleichbar ist. Und wir erleben ja auch, dass viele dann feststellen, wenn sie mehr recht als schlecht ihr Studium abgeschlossen haben, dass eigentlich sie, ja, überqualifiziert sind für die Tätigkeiten, die es gibt. Sehr viele im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich sind sozusagen unterbezahlt für ihre Ausbildung. Es gibt Enttäuschungen, und ich glaube, wenn wir hier zu einem neuen Gleichgewicht kämen in unserem Bildungswesen, weg von dieser ausschließlichen Orientierung auf das Abitur, dass wir insgesamt auch wieder mehr Zufriedenheit haben.

Das ist also ein Prozess, der nicht von heute auf morgen geht. Einerseits gibt es ganz klar die Steuerung sozusagen durch die Verdienstmöglichkeiten. Wir erleben jetzt, dass Handwerksberufe enorm ... nicht die Handwerksberufe sind nachgefragt, Handwerker enorm nachgefragt sind. Die Verdienstmöglichkeiten dort steigen exponentiell, während umgekehrt der Mehrverdienst im akademischen Bereich nicht mehr so hoch ist wie er früher war. Also, hier wird es auch einen Ausgleich geben, sozusagen über die Geldsteuerung. Auf der anderen Seite ist es so, dass wir, glaube ich, zunehmend junge Menschen haben, die tatsächlich auch wieder den Wert einer handwerklichen Ausbildung, einer beruflichen Ausbildung erkennen. Es gibt immer mehr Abiturienten, die nach dem Abitur eine berufliche Ausbildung machen, so dass wir auch auf diesem Wege wieder mehr Ausgleich und dadurch auch sozusagen eine höhere Gleichberechtigung von beruflicher und allgemeiner Bildung erreichen werden.

Also, die Herausforderung beim Lehramt beruflicher Schulen ist erstensmal, dass viele Abiturienten diese Möglichkeit eines Lehramtsberufs, eines Lehramtsstudiums, gar nicht im Blick haben. Sie kennen die Berufsschule nicht. Das Gymnasium kennen sie, die Grundschule kennen sie. Deswegen ist auch das berufliche Lehramt oft im Schatten und wird nicht gesehen. Also, ich glaube, wir müssten mehr auch informieren, auch in der beruflichen Orientierung an Schulen mehr informieren über diese Möglichkeit. Und dann ist natürlich beim beruflichen Lehramt es so, dass sich die Ausbildungsberufe häufig viel schneller ändern als die Lehrerbildung darauf reagieren kann. Das heißt, wir sind in der beruflichen Bildung, beim beruflichen Lehramt, auf Quereinsteiger angewiesen, auf den Berufspraktiker, der dann ein pädagogisches Studium draufsetzt. Das ist, glaube ich, der Weg, den wir auch weiter gehen müssen. Trotzdem wird es immer schwierig sein, genügend Bewerber für das berufliche Lehramt zu finden.

Man muss ja sagen, eigentlich ist der Berufschullehrerberuf ein sehr attraktiver Beruf, er hat dieselben Aufstiegsmöglichkeiten, auch dieselbe Einstufung wie das gymnasiale Lehramt. Was natürlich beim Berufsschullehramt dazukommt, ist die Konkurrenz der Wirtschaft. Das heißt, häufig ist halt die Überlegung: Verdiene ich nicht in der Wirtschaft, wenn ich meinen technischen Beruf beispielsweise dort weiter ausübe, mehr als wenn ich ins Lehramt wechsele? Aber wir wollen natürlich auch Menschen im Lehramt haben, die gerne mit jungen Leuten arbeiten und nicht nur nach dem Verdient schauen.