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Lehrermangel · Lehre

Herr Göttlich und die Kunst der Lehre

Vorlesung mit Professor
Foto: iStock/ skynesher

Der alte Lehrmeister kommt einmal im Jahr bei Richard Göttlich vorbei, das ist inzwischen Tradition. Immer vor Weihnachten hält Göttlich eine öffentliche Vorlesung, und sein längst pensionierter Chemielehrer aus Gymnasialzeiten nimmt auf einem der Stühle im Hörsaal Platz. Dieser Moment ist für die beiden wie eine Zeitreise zurück in die 1980er Jahre an das Gymnasium in Gießen, an dem Richard Göttlich sich auf das Abitur vorbereitete und dem Lehrer ein kleines Wunder gelang: „Vorher war Chemie für mich ein absolutes Horrorfach“, sagt der Schüler von einst – und Eckart Müller, sein Lehrer, schaffte es, ihn dafür so zu begeistern, dass der Schüler von einst zum renommierten Chemie-Professor geworden ist.

Wer Richard Göttlich heute besucht, tritt in eine faszinierende Welt ein: Neu ist das Universitätsgebäude in Gießen, es bietet ausreichend Platz für ein helles Büro und, einmal quer über den Flur, eine Reihe von High-Tech-Labors. Zehn Labor-Arbeitsplätze hat das Team von Göttlich, an ihnen dreht sich alles um die organische Chemie. Mit Farbstoffmolekülen beschäftigen sich Richard Göttlich und seine Mitarbeiter derzeit und mit Alkylierungsmitteln, die in der Medizin als Werkzeug für beschädigtes Erbgut eingesetzt werden können.

Der Preuße im bayrischen Bergsee

Eines der Lieblings-Experimente des Chemikers ist aber wesentlich trivialer, er hat es zum ersten Mal damals bei seinem Gymnasiallehrer gesehen. „Der Preuße im bayerischen Bergsee“, so nennt er es, und vor allem bei seinen Weihnachtsvorlesungen zeigt er es gern. Ein gläsernes Schälchen voller Wasser spielt darin die Hauptrolle, der bayerische Bergsee. Obendrauf streut er getrocknete Petersilie, das sind die Bayern. Dann benetzt Richard Göttlich seinen Zeigefinger mit Spülmittel, hält ihn hoch und ruft: „Und jetzt kommt der Preuße!“ Daraufhin taucht er den Finger in den Bergsee, und weil das Spülmittel sich auf der Wasseroberfläche ausbreitet, schießen die Petersilienblätter blitzartig an den Rand des Gefäßes. „Genau so“, erklärt Richard Göttlich dann, „machen’s die Bayern, wenn ein Preuße in ihren Bergsee steigt!“

So viel Anschaulichkeit muss sein, das hat er längst gemerkt, um das Interesse an seinem Fach zu wecken. Das ist eine der Lehren, die er aus seiner eigenen Schulzeit mitgenommen hat: Junge Leute brauchen jemanden, der sie begeistert – jemanden wie seinen alten Chemielehrer. Heute will Richard Göttlich derjenige sein, der begeistert. Für seine mitreißende Wissensvermittlung wurde er jetzt mit dem Ars Legendi-Preis [siehe Kasten] ausgezeichnet, dem renommiertesten deutschen Preis für gute Lehre. Die Jury würdigte seine besonderen Verdienste in der Verbindung von fachwissenschaftlicher Tiefe mit den spezifischen Anforderungen an die Lehramtsausbildung. Er setze als Fachwissenschaftler Maßstäbe in der Lehrkräftebildung. 

„Dass ich Professor geworden bin, liegt an meinem fehlenden Selbstvertrauen“, erzählt er und lacht. Sein Traumjob war eigentlich ein anderer: Lehrer wollte er werden, genauso wie alle in der Familie, sein Vater, seine Mutter, sein Großvater, sein Bruder, sein Onkel, seine Tante, sein Cousin. „Aber ich hatte mir damals nicht zugetraut, die pubertierenden Mittelschüler in den Griff zu bekommen“, sagt Richard Göttlich, und so stürzte er sich lieber auf die Laufbahn des Forschers. 

Höherer Stellenwert für die Lehre

Der Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre gehört zu den renommiertesten Lehrpreisen in Deutschland und wird vom Stifterverband seit 2006 verliehen. Ausgezeichnet werden Lehrende, die sich nicht nur als Forscher sehen, sondern auch in der Lehre neue Wege erproben. Der mit 30.000 Euro dotierte Preis soll einen karrierewirksamen Anreiz schaffen, sich in der Hochschullehre zu engagieren und gute Lehre darüber hinaus als ein zentrales Gütekriterium für Hochschulen etablieren. Mit Erfolg: Mit seinen Lehrpreisen und weiteren Förderungen für gute Lehre hat der Stifterverband der deutschen Hochschullandschaft in den vergangenen 20 Jahren einen entscheidenden Veränderungsschub gegeben. Das Verständnis dafür, dass gut ausgebildete Absolventen und Nachwuchswissenschaftler gute Lehrer brauchen, ist gewachsen. Der Stellenwert der Lehre an Hochschulen deutlich gestiegen. Dazu haben auch Preisträger wie Richard Göttlich beigetragen. 

Mehr zum Preis

Er studierte in Marburg, und schon bald nach der Promotion musste er seine ersten eigenen Lehrveranstaltungen halten – eine Woche lang als Vertreter für einen erkrankten Professor, es ging um die chemischen Grundlagen der Medizin, im Hörsaal saßen angehende Ärzte. Wie sie war, diese erste eigene Erfahrung mit der Lehre? „Ich war einfach nur froh, dass ich die Woche überstanden habe, ohne dass eine Meuterei ausgebrochen ist!“

Natürlich ist viel Understatement dabei, wenn er das erzählt. Schon damals kamen nach der Vorlesung einige Studierende vor zu ihm und bedankten sich dafür, dass sie den Stoff endlich verstanden hätten. Ein Händchen für die Lehre musste er damals schon gehabt haben, und er baute diese starke Seite weiter aus, als er nach einem Postdoc in Japan an die Universität Münster wechselte. Dort gründete er ein Schülerlabor. Und während die Jugendlichen experimentierten, unterhielt sich Richard Göttlich mit den Lehrern, die sie begleiteten, und fragte sie nach ihrer Unterrichtserfahrung aus. „In diesen Gesprächen habe ich erfahren, was sie im Alltag brauchen und wo häufig der Schuh drückt“, erinnert er sich: „So bin ich immer tiefer in die Lehrkräfteausbildung reingerutscht!“

Richard Göttlich im Labor
Richard Göttlich (Foto: Uni Gießen)

„Die Chemieindustrie ist nach der Automobil-Branche der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Und wir tun uns schwer damit, junge Leute für die Chemie zu begeistern.“

Richard Göttlich
Professor für Organische Chemie an der Universität Gießen

Forschung versus Lehre

Für Professoren ist das üblicherweise ein heikles Thema: Sie haben ihre eigene Forschung, für die sie brennen, und in der internationalen Fachcommunity zählen vor allem Publikationen in renommierten Zeitschriften. Dass sie sich neben dieser fachwissenschaftlichen Arbeit auch noch um angehende Lehrkräfte kümmern sollen, passt nicht allen. Richard Göttlich drückt das diplomatischer aus: „Wenn man sich in diesem Bereich engagiert, finden das alle ganz großartig. Aber sobald man Leute sucht, die mitmachen, wird es deutlich schwieriger.“ Das Dilemma kennt er schließlich selbst: Seine Forschung sei zu mehr als 90 Prozent nicht relevant für die Lehre. Um so wichtige sind hier Lehrpreise wie der Ars legendi-Preis, die denn Stellenwert der Lehre für die Ausbildung des akademischen Nachwuchs stärken und damit langfristig zu einem Kulturwandel an der Hochschule beitragen. 

Als Richard Göttlich 2005 als Professor nach Gießen berufen wurde, zurück in seine Heimatstadt, hatte er aber auch in dieser Hinsicht Glück; er fand reihenweise engagierte Kollegen, die mit ihm an einem Strang zogen. Mit guter Lehre kann er alle erreichen, das ist sein Kalkül: Schüler, die dadurch neugierig werden auf das Fach. Studierende, die besser verstehen, worum es geht und Lust bekommen, tiefer in die Zusammenhänge einzutauchen. Und angehende Lehrkräfte, die zusätzlich auch noch wissen müssen, wie sie den Stoff möglichst inspirierend an ihre künftigen Schüler weitergeben.

Viele Baustellen sind das, und Richard Göttlich nahm sie sich eine nach der anderen vor. Und manchmal verband er sie miteinander. Zum Beispiel im Schülerlabor, das es in Gießen auch gibt: Für die Betreuung teilte er Studierende ein, damit sie erste Erfahrungen im Umgang mit Schülern sammeln können. Inzwischen ist aus dieser Idee das Lehr-/Lernlabor geworden, von dem alle profitieren: Die Schüler bekommen Einblicke in die Chemie, und die Studierenden lernen, wie es ist, vor einer Klasse zu stehen.

Auf schwierigem Terrain

Dass er bei der Lehrkräftebildung auf schwierigem Terrain unterwegs ist, weiß Richard Göttlich. Er kennt das Paradox aus dem Kontakt mit vielen Schulen: Alle wissen, dass vor allem Experimente die Neugier auf die Naturwissenschaften wecken. Gleichzeitig finden genau diese Experimente an Schulen immer weniger statt. Die Hürden dafür sind hoch geworden: Lehrkräfte müssen vorher etliche Formulare ausfüllen, etwa zur Gefährdungsbeurteilung. Die Schulen haben auch weniger Chemikalien, weil Anschaffung, Lagerung und schließlich Entsorgung viel Geld kosten. „Das hat fatale Auswirkungen“, sagt Richard Göttlich: „Die Chemieindustrie ist nach der Automobil-Branche der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Und wir tun uns schwer damit, junge Leute für die Chemie zu begeistern.“

Wie also mit der Situation umgehen? Richard Göttlich trat die Flucht nach vorn an und führte ein neues Format ein. Die Lehramts-Studierenden müssen bei ihm im Verlauf des Studiums einen 15-minütigen Vortrag mitsamt Experiment halten – mit einem Experiment allerdings, für das sie keine Chemikalien zur Verfügung gestellt bekommen. Was sie brauchen, müssen sie selbst auftreiben. „Es ist toll, auf welche Lösungen sie kommen“, hat Göttlich beobachtet: Manche bringen Kalk aus dem Baumarkt mit, andere kaufen in der Apotheke einen Warzenstift, um darüber an Silbernitrat zu gelangen – und mit diesen Stoffen experimentieren sie dann vor ihren Kommilitonen. Improvisieren lernen sie dadurch, und weil sie sich bei der Vorbereitung so intensiv mit ihren Versuchen beschäftigen, verinnerlichen sie auch den Stoff ganz anders.
 

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Lehre neu denken

Zehn Jahre lang haben Stifterverband und die Baden-Württemberg Stiftung Lehrende dabei gefördert, die Lehre an Hochschulen neu zu denken.

Über die Jahre hat Richard Göttlich so ein ganzes Sortiment von Tricks und Kniffen aufgebaut, mit denen er die Lehre verbessert. Und parallel dazu immer neue Zielgruppen erschlossen – die Begeisterung für die Chemie, so sein erklärtes Ziel, will er schließlich in die Breite tragen. So lehrt er beispielsweise in einem Programm der hessischen Lehrkräfteakademie für gestandene Lehrkräfte, die ganz andere Fächer unterrichten und die Chemie noch draufsatteln möchten. Das bundesweit einmalige Programm findet berufsbegleitend statt, insgesamt 40 Mal kommen die Teilnehmer immer freitags nach Gießen in spezielle Seminare. Zum Abschluss machen sie eine Staatsexamensprüfung in Chemie.

Das ist aber noch nicht alles. Bei Richard Göttlich geht die Leidenschaft für die Chemie so weit, dass er in seiner Freizeit regelmäßig Schulen der Region besucht, um dort Vorträge zu halten. Zwei Themen hat er zu diesem Zweck ausgearbeitet; um synthetische Drogen geht es in einem davon, im anderen um Chemiewaffen. Zehn bis 15 Vorträge pro Jahr, schätzt er, kommen so zusammen, und auch diese Termine sind für ihn ein Mittel, um andere anzustecken.

Und dann gibt es jene Situationen, in denen er merkt, dass sich die Mühe lohnt, die er in die Lehre steckt. Meistens ereignen sie sich zu Beginn eines neuen Semesters, wenn er seinen neuen Studierenden gegenübersteht. Und tatsächlich erzählen ihm manche, dass sie wegen ihres mitreißenden Lehrers jetzt Chemie studieren wollen. Wenn Göttlich nachfragt, stellt er fest: Diese begeisternden Lehrkräfte haben oft früher bei ihm studiert.

Es ist die vierte Generation derer, die die Flamme weitertragen – die vierte Generation nach jenem Oberstufenlehrer, der einst Richard Göttlich auf den Geschmack gebracht und damit so etwas wie ein Gießener Chemie-Wunder gestartet hat.

 

Die besten Hochschullehrer 2024

Im Jahr 2024 wurde der Ars legendi-Preis zu dem Thema „Fachwissenschaften für die Lehrkräftebildung“ zu gleichen Teilen an Richard Göttlich (l.) und Rolf Kreyer. Professor Rolf Kreyer von der Philipps-Universität Marburg hat sich mit seinem Leitsatz „Good linguists are better teachers!“ einen Namen gemacht. Seit über zehn Jahren verfolgt er das Ziel, angehende und etablierte Englischlehrkräfte davon zu überzeugen, dass die Verbindung von linguistischer Expertise und praktischer Anwendung entscheidend für einen erfolgreichen Unterricht ist. In seiner Lehre verzahnt er die theoretischen Grundlagen der anglistischen Linguistik eng mit der praktischen Lehrerausbildung und regt Studierende dazu an, kritisch zu hinterfragen und eigenständig zu denken.

2024 stand der Ars legendi-Preis unter dem Thema „Fachwissenschaften für die Lehrkräftebildung“, in diesem Jahr unter dem Thema Demokratiebildung in der Hochschullehre.
 

Mehr zu den Preisträgern 

Ars legendi Preisträger 2024: Richard Göttlich und Rolf Kreyer
Ars legendi Preisträger 2024: Richard Göttlich und Rolf Kreyer (Foto: S.Quanz)
Preisverleihung am 13. März 2025
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