Mehr Bereitschaft zum Risiko

Antike Säulen
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Dieser Tage bestätigte eine Studie der Schweizer Hochschule IMD einen längst unübersehbaren Trend: Unter den wettbewerbsfähigsten Nationen ist Deutschland im IMD-Ranking binnen zehn Jahren von Platz sechs auf 24 gerutscht.

Gewiss, Studien gibt es viele, Befunde muss man sorgsam einordnen. Trotzdem ist für uns unstrittig: Die deutsche Wissenschaft ist nicht mehr länger die Stütze für Forschung, Innovation und damit auch für Wohlstand in Europa, die sie einmal war. Mit Forschungsausgaben von über drei Prozent der nationalen Wertschöpfung war Deutschland der Musterschüler unter den großen EU-Mitgliedsländern. Deutsche Forschungswettbewerbe bildeten die Blaupause für ähnliche Initiativen in Frankreich und anderen Ländern. Inzwischen ist Europa im Vergleich mit den USA und China nicht nur Schlusslicht bei der Gründung neuer, auf Spitzenwissenschaft beruhender Unternehmen - jüngstes Beispiel: künstliche Intelligenz, die die Forschungsabteilungen amerikanischer Technologiekonzerne dominieren und die in Europa verschlafen wurde. Auch in der Grundlagenforschung hat Deutschland seinen führenden Rang eingebüßt. In den internationalen Ranglisten der führenden Universitäten sucht man die deutschen vergebens.

Welcher Weg führt aus diesem tiefen Tal heraus? Darüber haben wir über Monate mit Wissenschaftspolitikerinnen und -politikern aus Bund und Ländern sowie Vertretern aus Hochschulen, Wissenschaftseinrichtungen und der Wirtschaft diskutiert. Das Ergebnis sind sechs Pilotinitiativen, die uns geeignet erscheinen, die überfällige Modernisierung des Wissenschaftssystems voranzutreiben.

Sechs Schritte, die das Hochschul- und Wissenschaftssystem zukunftsfest machen

1. Strategiefähigkeit stärken: Governance-Modelle fördern und den Hochschulen mehr Steuerungsmöglichkeiten eröffnen

Hochschulen in Deutschland müssen wieder strategiefähiger werden. Aus guten Gründen hat das Bundesverfassungsgericht den Professoren große Privilegien bei der Wahl ihrer Forschungsthemen und -schwerpunkte eingeräumt. Dies entbindet Hochschulleitungen jedoch nicht von der Aufgabe, grundsätzlich zu fragen, wo sie in ihren Einrichtungen Stärken weiter stärken wollen. Wo sie auf Themengebiete verzichten, weil sie nicht tragfähig ausgestattet sind, und wo sie mit langem Atem Forschungsfelder neu erschließen. 

Im Zentrum muss die Frage stehen, wie das Handeln der einzelnen Hochschule auch auf das Gesamtinteresse eines Bundeslandes und Deutschlands insgesamt einzahlt. Langfristige wissenschaftliche Interessen sind dabei längst nicht immer deckungsfähig mit politischen Prioritäten. Wenn wissenschaftspolitische Prioritätensetzungen sich jedoch in erster Linie an finanzpolitischen Notwendigkeiten orientieren, dann springen wir in der Debatte zu kurz. Vielmehr müssen wir die Interessen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft neu abwägen und den Dialog über die Generationen hinweg führen. Hier müssen auch die Hochschulen eine Antwort liefern.
 

2. Perspektivwechsel wagen: Den Wettbewerb um Fördermittel mit einer Wirkungslogik ergänzen, die die Ausrichtung an nationalen forschungs- und wissenschaftspolitischen Zielen stärkt

Hierzu ist es notwendig, einen Perspektivenwechsel zu wagen: Die Weiterentwicklung des deutschen Wissenschaftssystems war in den vergangenen zwei Jahrzehnten vornehmlich durch Wettbewerbslogiken geprägt. Seien es Spitzencluster-Wettbewerbe oder Exzellenzstrategien -- sie alle schufen Anreize, einzelne Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu profilieren. Als Maßstab dazu dienten zuvorderst rein innerwissenschaftliche Indikatoren, insbesondere die Zahl und die Qualität wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Die sind wichtig, um wissenschaftliche Qualität zu bewerten. Aber sie eignen sich nicht dafür, wissenschaftsstrategische Entscheidungen zu begründen, die dann zu einem möglichst effizienten Zusammenwirken der Hochschulen im deutschen Wissenschaftssystem führen. 

Deshalb ist es an der Zeit, die Wettbewerbslogiken um eine Wirkungslogik zu ergänzen, die wissenschaftspolitische Ziele mit einem Roadmapping verknüpfen. Dazu müssen auch der Bund und die Länder ihre Hausaufgaben machen. Mit Blick auf die Innovationsfähigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaft gehören hierzu strategische Positionierungen zu zukunftsrelevanten Schlüsseltechnologien und modernen Instrumenten der Innovationsförderung. Angesichts des demografischen Wandels müssen auch die akademische Fachkräftebildung und das lebensbegleitende Lernen neu orientiert werden.

3. Durchlässigkeit realisieren: Neue Rahmenbedingungen schaffen, damit kluge Köpfe verschiedener Sektoren aus Wissenschaft, Wirtschaft und auch Verwaltung kollaborieren – ohne bürokratische Hürden

Wir benötigen mehr Durchlässigkeit zwischen den Sektoren. In den starken Forschungs- und Innovationsregionen der Welt wird diese Durchlässigkeit zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung ganz selbstverständlich gelebt. Die Karrieren von Forschenden entfalten sich oft im Wechsel zwischen Forschungsinstituten, Unternehmen, NGOs oder Kultureinrichtungen. So wird es möglich, Wissen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammenzuführen, gemeinsam zu lernen und neue Ideen zu entwickeln. 

Angesichts der vielfältigen Veränderungen, die wir in krisengeplagter Zeit bewältigen müssen, ist es notwendig, neue Räume des Zusammenwirkens zu schaffen, in denen kluge Köpfe aus unterschiedlichen Sektoren zusammenkommen oder zwischen den Welten wechseln können. Dazu gehören Rahmenbedingungen, die Zusammenarbeit befördern und nicht behindern. Die bisherigen formalen Argumente - vom Beamtenrecht im öffentlichen Bereich bis zu Geheimhaltungserfordernissen in Unternehmen - sind angesichts der aktuellen Dynamik wettbewerbsschädigend. 
 

4. Effizienz steigern: Hochschulen bündeln Ressourcen entlang ihrer herausragenden Forschungs- und Innovationsprofile, zum Beispiel in zukunftsorientierten Verbünden für die Lehre und den Transfer

Wenn sich die Welt um uns herum schneller und grundlegender verändert als wir es bisher wahrgenommen haben, dann suchen wir instinktiv nach Sicherheiten, um im Wandel zu bestehen. Auch die Wissenschaft ist überfordert, diesen Sicherheitsanker zu werfen. Aber sie kann Vorkehrungen treffen, um auf neue Unsicherheiten besser vorbereitet zu sein. Hier liegt eine der Stärken einer Wissenschaft, die dem Erkenntnisinteresse kluger Wissenschaftler Raum und Zeit bietet. Dazu ist es notwendig, über aktuelle Nutzenerwartungen hinaus ein breites Spektrum an Disziplinen und Fächern vorzuhalten. 

Und es erfordert bessere Bedingungen für unsere Spitzeneinrichtungen, um international mit den Besten konkurrenzfähig zu sein. Das kostet Geld. Deshalb ist es an der Zeit, in ausgewählten Fächern und Bereichen auch über neue Finanzierungsmodelle in öffentlich-privater Partnerschaft nachzudenken. Ein wesentlicher Treiber der technologischen Entwicklung ist in anderen Ländern die Sicherheits- und Verteidigungsforschung. Die Enttabuisierung dieser Felder muss fortgesetzt werden und produktives Handeln beginnen.

Es ist aber keineswegs nur eine Ressourcenfrage. Bund und Länder sind gefordert, verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen: durch mutige Investitionen in Forschungsinfrastrukturen, durch Regelungen, die strategischen Kapazitätsaufbau ermöglichen statt kostenträchtiger Doppelungen. Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen müssen mehr Eigenverantwortung übernehmen: etwa durch klare Forschungs- und Innovationsprofile, durch gemeinsam zu nutzende Forschungsgroßgeräte, durch komplementäre Verbünde und neu gedachte Kooperationen für die Lehre und den Transfer von Forschungsergebnissen sowie durch Agilität, Funktionalität und Effizienz im Management.

5. Agilität fördern und ins Risiko gehen: Weitreichende Experimentierklauseln in Landes- und Bundesgesetzen, um Reallabore und strategische Veränderungsallianzen für mutige Entwicklungswege zu ermöglichen

Deshalb ist es nötig, mehr ins Risiko zu gehen und mutig Experimentierräume zu öffnen. Es braucht Veränderungsallianzen über Landes- und Institutionengrenzen hinweg. Gemeinsam sollen diese Akteure aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Einrichtungen (öffentlich wie privat) in „Reallaboren" zu konkreten Themen in Forschung, Lehre und Transfer zusammenarbeiten, voneinander lernen und arbeitsteilig Lösungen entwickeln, auch gemeinsam mit Nachbarländern Deutschlands. Dafür müssen bürokratische Hürden entfallen, Führung und Governance sind eindeutig am Ziel des Verbundes orientiert, teure Forschungsinfrastruktur wird von allen genutzt -- und die Begleitforschung erarbeitet Empfehlungen für Gesetzgebung und Wissenschaftsmanagement, um solche Verbünde weiter zu stärken. 

So werden Verantwortung übernommen, Agilität ermöglicht, Ressourcen gebündelt und Leuchttürme auf Weltniveau in Lehre, Forschung und Transfer errichtet. Mit Reallaboren können staatliche Akteure und wissenschaftliche Einrichtungen beispielhaft ihre Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft unter Beweis stellen und neues Vertrauen in öffentliche Einrichtungen stiften.

6. Neue Debattenqualität in der Politik: Vor Budgetverhandlungen zwischen Bund und Ländern sind strukturierte Debatten und Einigungen über zukunfts- und international wettbewerbsfähige Entwicklungsziele für die deutsche Wissenschaft notwendig

Es gilt, Veränderungen radikal neu zu denken. Wir brauchen eine strukturierte und kontinuierliche Debatte zur Abstimmung und Orchestrierung des Handelns von Bund, Ländern und Einrichtungen der Wissenschaft. Budgetverhandlungen zwischen Bund und Ländern dürfen nicht am Anfang dieser Debatte stehen. Sie können nur ihr Schlusspunkt sein. Im schwierigen Mehrebenensystem unseres Landes müssen wir Verständigung darüber erzielen, wie wir unser Wissenschaftssystem so aufstellen, dass es wieder international anschluss- und konkurrenzfähig wird. Für neue und unvorhergesehene wissenschaftliche Erkenntnisse; für Innovationsimpulse, die Sicherheit in Zeiten der Unsicherheit stiften; für eine generationengerechte Zukunft.

Porträt Georg Schütte

„Leistungsfähige Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen der Zukunft müssen sich an der Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Wandels ausrichten. Entsprechend muss das deutsche Wissenschaftssystem weiterentwickelt werden.”

Georg Schütte, Generalsekretär der VolkswagenStiftung
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„Die Schaffung von Experimentierräumen und der permanente kritische Blick auf den Gestaltungsfortschritt garantiert, dass bei Bedarf flexibel nachgesteuert werden kann, um die Vision eines zukunftsfähigen Wissenschaftssystems erfolgreich zu gestalten. Es ist an der Zeit, neue Wege zu gehen.”

Volker Meyer-Guckel, Generalsekretär des Stifterverbandes
Impulspapier zum Download

Das Impuls-Papier als PDF-Download unter:

Veränderungen wagen: Neue Impulse für ein Hochschul- und Wissenschaftssystem der Zukunft
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