Technik im Tarnmodus

Audio Wellenform
Audio Wellenform (Foto: unsplash+)
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Text Redaktion
Veröffentlicht am 15.07.2024
Lesezeit 6 Minuten

Bernhard Grill entwickelt in Erfurt erfolgreiche Audio- und Medientechnologien fürs Handy. Der Mit-Erfinder des legendären mp3-Verfahrens sorgt sich um den wissenschaftlichen Nachwuchs. Insbesondere junge Frauen würden durch ein hartes Techniklabel abgeschreckt.  

Herr Professor Grill, Sie wurden 2000 als Mitentwickler des legendären Audiokompressionsformats mp3 mit dem Deutschen Zukunftspreis ausgezeichnet. Woran tüfteln Sie heute?
Der mp3-Codec war hier am Fraunhofer IIS unsere erste Generation an Audiocodecs. 1994 waren wir damit fertig. Der Preis kam sechs Jahre später, als auch der wirtschaftliche Erfolg da war und sich das Verfahren durchgesetzt hatte. Es war eine neue Technologie, die es einfacher machte, Musik zu verteilen, nämlich über das Internet, das damals zeitgleich entstand. Die beiden Dinge haben sich gegenseitig befeuert und mp3 war vielleicht die wichtigste Anwendung. Danach haben wir praktisch weitergemacht und das AAC-Verfahren entwickelt („Advanced Audio Coding“ -  AAC verbessert die Klangqualität im Vergleich zu anderen Verfahren wie MP3 oder WMA bei einer niedrigeren Datenrate. d.Red). iTunes von Apple war die erste große Anwendung. Heute ist in jedem Fernseher, in jedem Auto, in allem, was Audio abspielen kann ein Audiocodec, der von uns entwickelt wurde. Inzwischen nutzen Sie unsere vierte Generation, xHE-AAC, wenn Sie beispielsweise übers Handy Netflix streamen.  

  

Das heißt, Sie schaffen mit Ihrer Forschung und Entwicklung auch immer wieder den Sprung auf den Markt?  
Ja, es ist uns gelungen, über mehr als dreißig Jahre aktuell zu bleiben. Die Patente von mp3 sind nach zwanzig Jahren längst ausgelaufen, ebenso wie die Patente für die zweite Generation Audiocodecs. Wir leben jetzt von der dritten und vierten Generation und das sehr gut. Wirtschaftlich waren alle Formate sehr erfolgreich.  
Das mp3-Verfahren haben wir damals mit einem Kernteam von sechs Forschern entwickelt, bei der vierten Generation waren wir bei der Größenordnung 100. Die Dinge werden komplizierter und jede Codec-Generation muss deutlich besser sein, damit wir Geld dafür bekommen.
Technologien und Anwendungen für Handys sind unser Schwerpunkt. Aber wir sind auch sehr erfolgreich im Bereich TV und bei Automobilherstellern. Um diese Codec-Welt herum sind eine ganze Reihe von anderen Technologien entstanden, beispielsweise Smart Speaker, die Sprecherseparation und die Soundwiedergabe in Autos. Das sind quasi Nebenprodukte, die für uns inzwischen auch ein relevantes Geschäft sind.

Das klingt alles nach einem fulminanten Durchmarsch. Wo mussten Sie sich als Forscher auch mal durchbeißen?
Das größte Problem, das wir lange Zeit hatten, war Sprache. Sprache ist tatsächlich ein sehr unangenehmes Signal, weil es sehr dynamisch ist. Alle würden denken, dass komplizierte Orchestermusik schwieriger ist, aber dem ist nicht so. Das Problem war in unserer vierten Generation endlich gelöst. Wenn Sie heute auf den Mobiltelefonen eine deutliche bessere Sprachqualität als auf dem Festnetz haben, liegt das unter anderem an unserem EVS-Sprach-Codec.  

Porträt von Bernhard Grill
Zur Person

Bernhard Grill ist Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) in Erlangen mit der Zuständigkeit für Audio- und Medientechnologien und Sprecher der International Audio Laboratories Erlangen (AudioLabs), einer gemeinsamen Einrichtung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und des Fraunhofer IIS. 2000 wurde der promovierte Elektrotechniker zusammen mit seinen Kollegen Karlheinz Brandenburg und Harald Popp für die Erfindung des Komprimierungsformats mp3 mit dem Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet

„Der MINT-Bereich hat eine Art Nerd-Image. Dieses Image ist vermutlich auch einer der Gründe, warum wir die Mädchen so früh für diese Fächer verlieren.”

Bernhard Grill, Fraunhofer IIS

Welche Rolle wird KI bei Ihrer nächsten Codec-Generation spielen?
KI wird bei der Entwicklung generell eine wichtige Rolle spielen. Wir haben eine große Initiative gestartet, um unsere Kompetenzen zu bündeln und haben einige hundert Mitarbeiter, die an KI-Technologien arbeiten, darunter auch an Codecs der fünften Generation. Zusammen mit dem Fraunhofer IAIS arbeiten wir im openGPT-X Projekt an einem großen KI-Sprachmodell basierend auf generativer KI – einer Art ChatGPT aus Europa, für Europa.

Audiocodecs, Signalverarbeitung, KI Sprachmodelle – das klingt nach komplexer Technik. Finden Sie genug wissenschaftlichen Nachwuchs?
Wir haben tatsächlich viel zu wenig Studenten, die sich heute für MINT-Fächer entscheiden. Unser Bedarf kann von Absolventen deutscher Hochschulen nicht annähernd gedeckt werden. Durch unsere Bekanntheit und unseren guten Ruf gelingt es uns aber, sehr gute Studierende aus dem Ausland nach Erlangen zu holen und so unsere Stellen zu besetzen.  
Unser Bereich hier, die digitale Signalverarbeitung, gehört zur Elektrotechnik und ist sehr mathematisch und Informatik-lastig. Wenn Sie so wollen, ein Spiel mit Formeln und relativ komplexen mathematischen Vorgängen, die dann auf Chips und Computern realisiert werden. Ohne unsere Disziplin wären Handys und Tablets nicht möglich.  
Die Aussage, sich nicht für Mathematik und Physik zu interessieren, ist in Deutschland leider sehr gesellschaftsfähig. Der MINT-Bereich hat eine Art Nerd-Image. Wenn Sie in eine der Vorabendsoaps schauen, sind immer die Ärzte die Helden. Suchen Sie mal einen Film, wo der Ingenieur am Ende als Held in den Sonnenuntergang reitet. Dieses Image ist vermutlich auch einer der Gründe, warum wir die Mädchen so früh für diese Fächer verlieren.  

Girls Day Aktionstag "Girls Day"
Girls Day Mädchen mit Roboter (Fotos: kompetenzz.de)

Trotz vieler Bemühungen wie den Girls Days ? 
Girls Days veranstalten wir natürlich auch, aber damit kommen wir eigentlich schon zu spät. In meinem Studium waren unter 361 Studierenden im Erstsemester drei Frauen. Meine Tochter war eine von zwei Mädchen im mathematischen Zweig auf einem sehr großen Gymnasium. Das heißt, Mädchen gehen schon ganz früh für die MINT-Fächer verloren.  
Wir haben bei uns an der FAU, an der Universität Erlangen, einen Studiengang „Medizintechnik“. Das ist im Grunde getarnte Elektrotechnik und Informatik. Hier ist über die Hälfte der Studierenden weiblich. Wo das Techniklabel nicht so durchscheint, ist der Frauenanteil deutlich höher. Teilweise um das 10-fache. Es ist ein großes Problem, dass wir die Hälfte der Bevölkerung für die „harten“ Ingenieurs- und Informatikfächer verlieren.  

Brauchen wir also mehr MINT-Offensiven in den Schulen? Für Mädchen? Für Mathematik? Für Informatik?
Ich denke, für alle und alles, was in diese Richtung geht. Man muss früh die Begeisterung für Technisches wecken. Ob man sich mit Mathematik, Physik oder Informatik beschäftigt, ist vielleicht erstmal sekundär. Das zahlt später alles darauf ein, technische Lösungen zu finden.    

Zukunftsmission Bildung

Aktuell fehlen dem Arbeitsmarkt rund 300.000 Fachkräfte im MINT-Bereich. Die Zukunftsmission Bildung des Stifterverbandes setzt sich zum Ziel, den Anteil der MINT-Absolventinnen und -Absolventen zu erhöhen, um diese Lücke zu reduzieren. Dafür ruft er eine Allianz für MINT-Fachkräfte ins Leben.
Die Allianz ist am 9. Juli 2024 gestartet.

Mehr zur MINT-Allianz in der Zukunftsmission
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