Meinung

Innovationssystem

Deutschlands Innovationsdefizite: Spitzenforschung allein reicht nicht aus

Wellenform blauer hintergrund
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Deutschland wird von der OECD das geringste Wachstum im Jahr 2025 vorhergesagt. Wir sehen eine seit Jahren wachsende Produktivitätslücke gegenüber den USA und das Ausbleiben einer Verbesserung in den Wettbewerbsindikatoren internationaler Vergleichsstudien. Die Nachrichten über das deutsche Innovationssystem sind alarmierend. Und das trotz weltweit wettbewerbsfähiger Forschungsinstitutionen sowie eines insgesamt vergleichsweise hohen Anteils der Forschungsausgaben am BIP von Wirtschaft und Staat. Wie passt das zusammen? Oder andersherum: Warum passt das nicht zusammen?

Das Problem: Forschungserfolge werden hierzulande wenig effektiv in marktgestaltende, ökologisch verträgliche und gesellschaftlich relevante Innovationserfolge umgewandelt. Deutschland ist stark in der Forschung, aber schwach in der Umsetzung. Innovation ist eben mehr als Transfer, sie ist immer auch ökonomisch erfolgreiche Umsetzung von neuen Ideen und Lösungen. In den USA liegt die Anzahl an Unicorns, also von jungen Unternehmen mit einem Marktwert von über 1 Milliarde US-Dollar pro Kopf, um den Faktor 4.5 über dem in Deutschland. Das muss uns zu denken geben. Ebenso finden neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft ihren Weg nur schwer und langsam in politische Entscheidungsfindungen und gesellschaftliche Gestaltungsprozesse. Lösungen zu komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen werden sich so nicht realisieren lassen, wenn wir versuchen, diese mit Forschungsansätzen in disziplinären Komfortzonen anzugehen. Im Gegenteil, die interdisziplinäre Natur dieser Herausforderungen verlangt eine neue Konvergenz disziplinärer Stärken auch unter Einbeziehung moderner sozial- und politikwissenschaftlicher, rechtlicher und ethischer Kompetenzen. Nur mit einem solchen gesamtheitlichen wissenschaftlichen Ansatz und unterstützt durch eine innovationsoffene Politik werden technologische Errungenschaften wie beispielsweise in der Fusionsforschung, im biomedizinischen Engineering, im Bereich der künstlichen Intelligenz, des neuronalen Computings oder in den Quantentechnologien auch bedeutsame wirtschaftliche Wertschöpfung und gesellschaftlichen Mehrwert erzeugen. In diesem Sinne sind auch tradierte Rollenverständnisse für Wissenschaftseinrichtungen, Wirtschaftsunternehmen, Politik und Gesellschaft zu überprüfen und neu zu justieren, sodass ein kluges und vertrauensvolles Miteinander zwischen all jenen entstehen kann, die zu neuen Erkenntnissen und Erfindungen oder zur erfolgreichen Umsetzung in Wirtschaft und Gesellschaft beitragen können. 

Thomas F. Hofmann
Thomas F. Hofmann (Foto: Astrid Eckert/ TUM)
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„Innovation ist mehr als Transfer, sie ist immer auch ökonomisch erfolgreiche Umsetzung von neuen Ideen und Lösungen.“

Thomas F. Hofmann
Präsident der TU München

Nach unserer Meinung zeichnet sich ein zukunftsfähiges und erfolgreiches Innovationssystem durch mindestens drei Kernmerkmale aus:

  1. Wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen, die kluge Köpfe, wegweisende Ideen und Kapitalkraft zusammenbringen und eine unternehmerische Kultur mit gesellschaftlicher Verantwortung verbinden.
  2. Ökosysteme statt versäulter Egosysteme – also ein neues Rollenverständnis im vertrauensvollen, interaktiven Zusammenspiel der Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und (Regional-)Politik mit echter Durchlässigkeit von Ideen, Erkenntnissen und Talenten. 
  3. Politischer Mut und Umsetzungskraft für die Skalierung und damit erfolgreiche Umsetzung in Wirtschaft und Gesellschaft.

Beispiele und Erläuterungen

Zum ersten Punkt: Weltweit ohne Ausnahmen beziehen die Innovationsmetropolen ihre einmalige Schubkraft aus wissenschaftlichen Spitzeneinrichtungen im Zentrum von wirtschaftlich starken Ökosystemen. Es gäbe kein Silicon Valley ohne die Eliteuniversitäten Stanford und Berkeley, keine Route 128 in Boston ohne Harvard und das MIT und kein Golden triangle ohne Imperial College London, Cambridge und Oxford. Aus der Symbiose von exzellenter Forschung und unternehmerischer Kraft erwachsen wirtschaftlich starke und gesellschaftlich fortschrittliche Regionen. Die Gemeinsamkeit bei all diesen Ökosystemen sind eine innovationsfördernde Politik, Forschung auf internationalem Spitzenniveau und anschlussfähige Wirtschaftspartner. Diese magnetisieren Talente aus aller Welt und mobilisieren das Engagement privater Investoren und Stiftungen, die mit Finanzmitteln und Netzwerken die Wirkungskraft von Innovationsökosystemen weiter in die Höhe treiben. Solche Ökosysteme sind in Deutschland noch eher die Ausnahme und zum Teil in der Frühphase ihrer Entwicklung: Einige Beispiele sind München, in Ansätzen Aachen, Dresden, Karlsruhe und Tübingen und wachsend in Heilbronn.

Zum zweiten Punkt: Alle Hochschulen und Forschungsinstitute, und eben nicht nur die anwendungsnahen Einrichtungen wie Fraunhofer oder die HAWs, brauchen für erfolgreiche Innovationen das vertrauensvolle interaktive Zusammenspiel der Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft. Laut einer Studie von Elsevier haben Forschungsergebnisse höheren wissenschaftlichen (!) Impact (gemessen an Anzahl von Zitationen, Anteil in Top-Journals), wenn sie aus Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft hervorgehen. Sie profitieren durch Fragestellungen aus Unternehmen und Gesellschaft. Wer sich in solchen Wechselwirkungen und in den beschriebenen Ökosystemen als Forscher oder Forscherin bewegt, erfährt, an welchen Stellen Forschungsfragen möglicherweise zu kurz greifen oder Erkenntnisse nicht zur Umsetzung gelangen. Er beziehungsweise sie wird im produktiven Sinn jenseits der eigenen Forschungs- oder Innovationsgemeinschaft irritiert und inspiriert. Interessanterweise haben vier der fünf Nobelpreisträger in Chemie und Physik des Jahres 2024 in ihrer Wissenschaftskarriere sowohl an Hochschulen als auch bei Unternehmen (in diesem Fall Google) gearbeitet. 

Gerade in den Technologiefeldern künstliche Intelligenz, Quantencomputing, aber auch im biomedizinischen Engineering oder in den neuen Computertechnologien ist die Spitze der Forschung nicht mehr in den akademischen Instituten allein zu finden, sondern eben auch in forschenden Unternehmen, in denen viel neues Wissen entsteht, und vor allem auch große Datenmengen gesammelt werden. Sprunginnovationen werden vor allem dort entstehen, wo Akademia und Unternehmen gemeinsam an einem Strang ziehen – und zwar am gleichen Ende. Wir beobachten es daher mit Sorge, dass derzeit in Deutschland die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft quantitativ abnimmt. So betrug der Drittmittelanteil der Wirtschaft in der Akademia im Jahr 2022 nur noch 14,7 Prozent. 2006 waren es mehr als 26 Prozent. Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen der Unternehmen wandern aus verschiedenen Gründen zunehmend ins Ausland ab.

Michael Kaschke (Foto: David Ausserhofer)
Michael Kaschke (Foto: David Ausserhofer)
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„Sprunginnovationen werden vor allem dort entstehen, wo Akademia und Unternehmen gemeinsam an einem Strang ziehen – und zwar am gleichen Ende.“

Michael Kaschke
Präsident des Stifterverbandes

Drittens: Die Politik fordert mehr Innovationen. Ja, aber es geht eben nicht nur um quantitativ mehr Innovationen, sondern auch darum, den Willen, den Mut und die Kraft aufzubringen, potenzialreiche Innovationen wirklich in Deutschland zu skalieren. Deutschland ist stark darin, Hunderte von Innovationen von 0 auf 1 bringen, während in den USA oder in China die Skalierung von 1 auf 100 gelingt. Gerade das viel zitierte Beispiel der Impfstoffentwicklung bei BioNTech zeigt, dass Wissenschaft mit alleiniger staatlicher Förderung nicht skalierbar ist. Es braucht industrielle Partnerschaften mit der Fähigkeit zur (globalen) Skalierung der Innovationen. So werden auch die Klimaziele und die Energiewende Deutschlands Wunschdenken bleiben, solange die Politik an nicht bis zu Ende gedachten Konzepten festhält und die Wissenschaft nur im Labor- oder Kleinmaßstab agiert, statt an marktfähigen und skalierbaren Technologien und deren systemischer Verknüpfung zu arbeiten. Echte Reallabore mit privater Beteiligung (wie sie im Bereich KI an einigen Stellen im Entstehen sind) sind ein möglicher Weg, hier eine neue, notwendige Dynamik zu entfalten. Das Mitwirken des Staates bei der Skalierung ist wichtig, darf aber nicht überschätzt werden, denn ohne skalierungsfähige Wirtschaft bleiben wissenschaftliche Durchbrüche oft in Labors oder Start-up-Unternehmen stecken. Die Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik schafft es bisher nicht ausreichend, entsprechend attraktive Rahmenbedingungen für eine gute Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft zu schaffen. Verlierer sind wir alle. Ein Verlust an Arbeitsplätzen, an Wertschöpfung und Wohlstand.  

Bioforschung im Labor
Foto: Selina Pfrüner/Stifterverband
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Forschung braucht industrielle Partner, um Innovationen weltweit skalieren zu können

Was muss eine neue Bundesregierung nach der Wahl tun, um den Innovationsstandort zu stärken?

Sie muss vor allem Deutschlands Defizite in den drei genannten Charakteristika eines modernen Innovationssystems energisch, konsequent und prinzipiell angehen. Mit immer kleinteiligeren Förderstrukturen und einer Verteilung im Gießkannenprinzip wird die Leistungsfähigkeit des Innovationssystems Deutschlands im globalen Wettbewerb nicht herzustellen sein. Wir brauchen einen wirksamen strategischen Ansatz für eine echte Innovationspolitik. Welche Elemente könnte dieser beinhalten? Wir möchten drei mögliche Hebel nennen, wissend, dass ein Maßnahmenpaket deutlich mehr umfassen muss.

  1. Ökosysteme fördern / Transformations- und Experimentierräume schaffen
    Ökosysteme müssen größer gedacht werden, nicht nur als Forschungsförderung durch ein Wissenschaftsministerium oder eine KMU-Förderung durch ein Wirtschaftsministerium. Hier müssen rahmenpolitische Voraussetzungen für eine selbsttragende Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft – regional wie über Bundesländer hinweg – geschaffen und bestehende Kooperations- und Kofinanzierungshindernisse aus dem Weg geräumt werden. Dazu braucht es eine Kompetenzneuordnung und nach vielen Jahren endlich die kraftvolle Stärkung eines Bundesministeriums für Forschung und Innovation mit Ressortzuständigkeit für alle Technologie- und Forschungsthemen. Darüber hinaus benötigen wir neue grundlegende Koordinationsmechanismen mit Umsetzungskompetenz für übergreifende strategische Innovationsmissionen. Eine der Kernaufgaben eines neuen Bundesministeriums für Forschung und Innovation wäre es, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.
  2. Transfer und Kooperation stärken, Finanzierungen öffnen
    Die Überführung neuer Erkenntnisse und Technologien in marktorientierte Innovationsprozesse muss deutlich effektiver gestaltet werden. Deep-Tech-Bereiche und Schlüsseltechnologien müssen neben staatlicher Förderung besonders auch durch attraktivere Bedingungen für Bereitstellung von privatem Kapital gestärkt werden. Investitionsbeschränkungen und Hürden, wie sie heute zum Beispiel für Pensionsfonds existieren, müssen abgeschafft werden, Public Private Partnerships in Forschung und Innovation der Privatwirtschaft durch (steuerliche) Investitionsanreize müssen verstärkt ermöglicht werden.
  3. Eigenverantwortung der Akteure und Kooperation stärken 
    Die Autonomie und Eigenverantwortung der Wissenschaftseinrichtungen und Förderorganisationen sollte deutlich ausgebaut werden. Gesetzlich heute schon mögliche Experimentierräume müssen konsequent genutzt und weiterentwickelt werden, um überholte regulatorische Hürden zu überwinden, aber auch institutionelle Neuerungen auszuprobieren. Innovationsfähigkeit braucht keinen stark kontrollierten Einheitszustand, sondern setzt Handlungsfreiräume voraus, um zukunftsfähige Alternativen und innovative Strukturen und Formate zu erproben. Die Orientierung für Innovationsakteure sollte durch klare Ergebnis- und Erfolgskontrollen und nicht durch die sture Vorgabe von Wegen und Methoden erfolgen. Entsprechend können dadurch Bürokratie und Verwaltungsressourcen abgebaut und eine innovationsfördernde Steuerung aufgebaut werden. Insgesamt sollte das Prinzip der Innovationsermöglichung in Gesetzgebungsverfahren mindestens gleichberechtigt neben dem Vorsorgeprinzip stehen.

Das übergeordnete Ziel muss eine effizientere Zusammenarbeit von Bund, Ländern und der Wirtschaft sein, die auch länderübergreifende Entwicklungsmaßnahmen ermöglicht. Wir brauchen Kooperation statt Silodenken und eine neue Kultur des Mutes und der Vernetzung. Deutschland hat nach wie vor eine starke, hochdifferenzierte Forschung mit ausgewiesenen weltweit führenden Forscherinnen und Forschern und Forschungsinstitutionen. Und immer noch ist die deutsche Industrie eine der forschungsstärksten Industrien der Welt, was gleichermaßen für die Großindustrie als auch für den Mittelstand gilt. Wir sind überzeugt, dass mit den angesprochenen Hebeln die Priorisierungs- und vor allem Umsetzungsdefizite beseitigt werden können und Deutschland aus der starken Ausgangsposition in der Forschung die notwendigen Impulse für Innovationen in Wirtschaft und gesellschaftlichen Fortschritt erhalten kann. Wir können es, aber wir müssen es auch wollen!

 

Michael Kaschke ist Präsident des Stifterverbandes
Thomas F. Hofmann ist Präsident der TU München.

 

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