Robert Schlögl, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung und Vizepräsident der Leopoldina, moniert den Aktionismus, mit dem die Transformation des Energiesystems in Deutschland in Angriff genommen wurde. Es mangelt an einem tragfähigen Konzept und an einer Roadmap. Es reiche nicht aus, nur Ziele zu diskutieren, sondern man benötige auch einen realistischen Plan für die Schritte dorthin. Und dabei müsse auch eine Aufgabe mitgedacht werden, die noch am weitesten in der Zukunft liegt – große Mengen an Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre herauszufiltern.
Das Video entstand am Rande des Forschungsgipfels 2023 in Berlin.
Zum Forschungsgipfel hat die Leopoldina das Diskussionspapier "Leitideen für die Transformation des Energiesystems" veröffentlicht, auf das Schlögl im Interview Bezug nimmt.
Die Situation der Energiewende kann so beschrieben werden, dass in einem wilden Aktionismus irgendwelche Leute an irgendwelchen Stellen des Energiesystems Veränderungen vornehmen oder vorgenommen haben, auch schon sehr viel Geld investiert worden ist. Aber es fehlt eben die Roadmap oder der Plan oder das Konzept, wie man's sagen will.
Alle sprechen immer darüber, man müsse doch jetzt mal anfangen. Aber das tun sie schon seit zwei Jahren, und man sieht einfach den Anfang nicht. Und deswegen haben wir uns zusammengesetzt und überlegt: Warum fängt es denn nicht an? Und da stellt man fest, dass es auf der einen Seite Verständigungsprobleme über die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Probleme gibt, und auf der anderen Seite ist es wirklich so, dass auch noch Dinge fehlen. Man kann noch nicht richtig anfangen. Und das haben wir einfach mal zusammengestellt, was denn jetzt dann zu tun wäre.
Wir haben uns zunächst überlegt: Was fehlt, sind natürlich die Forschungsfragen, und die Forschungsfragen müssen so gegliedert werden, dass die schwierigsten Fragen zunächst kommen, und die Dinge, die wir schon besser können, kommen hintendran, weil natürlich der Vorlauf, bis aus Forschung Taten werden, relativ lange ist. Wir reden da eher von Jahrzehnten. Deswegen kommt diese irritierende Gliederung zustande, in der man sagt: Das Wichtigste ist es, den Kohlenstoff wieder einzusammeln. Das werden wir nicht in den nächsten 15 Jahren tun, aber so gegen das Jahr 2040 werden wir das unbedingt tun müssen. Und eine Konsequenz davon ist eben, dass es auch sinnvoll ist, heute über E-Fuels nachzudenken, denn die hätten keinen Sinn, wenn man den Kohlenstoff nicht einsammeln könnte. Und so sieht man, dass langfristige Forschungsvorhaben heute schon Konsequenzen haben, weil die politischen Regeln einfach so angepasst werden müssen, dass das möglich ist.
Die Leopoldina sagt ganz deutlich: Das Allerallerwichtigste ist jetzt wirklich, dieses Konzept zu machen. Es muss festgestellt werden: Wer muss wann was tun? Und das geht im Augenblick wild durcheinander, weil die Politik die Verantwortung zwar übernommen hat, die Energiewende zu organisieren, aber außer einer Zieldiskussion eigentlich nichts dazu beigetragen hat, den Weg, den man dazu wählen muss, in irgendeiner Weise zu fixieren. Sie lässt es einfach laufen, und es gibt tausende Vorstellungen, wie dieser Weg ausschaut. Und niemand ordnet das Ganze.
Die Leopoldina-Stellungnahme nennt jetzt einige Dinge, die in dieser Aufgabe der Ordnung der Energiewende absolut vordringlich sind. Und dabei muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Energiewende ja ein globales Phänomen ist, und deswegen sind globale Aspekte am wichtigsten. Sie dauern am längsten, aber sie haben auch die größte Wirkung. Und wir in Deutschland haben leider den Fehler gemacht, die Energiewende als ein deutsches Phänomen zu begreifen und uns nicht darüber im Klaren zu sein, dass das global ist. Und deswegen erzeugen wir viele Randbedingungen der Energiewende, wie zum Beispiel Preis- oder Kostenfragen, die in Wirklichkeit nicht existieren, weil ja nicht nur Deutschland eine Energiewende macht, sondern eigentlich die ganze Welt. Und dann fallen viele der Probleme eigentlich weg.
Die Leopoldina schreibt nichts fest, sondern sie macht nur Empfehlungen. Und wir beginnen eben mit der Aufgabe, die am weitesten in der Zukunft liegt, nämlich das CO2 im Kreislauf zu führen, weil es Grundlage aller weiteren Entscheidungen ist, die etwas damit zu tun haben, stoffliche Energieträger im neuen Energiesystem zu verwenden. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das eine schwierige technische Aufgabe ist und dass auch organisiert werden muss: Wer bezahlt das Ganze denn? Grundsätzlich ist das eine teure und eben große Maßnahme, und solange das CO2, das man dabei gewinnt, keinen Wert hat, wird man das normalerweise nicht tun. Es ist nun allerdings so, dass das CO2, das man im Jahr 2040 aus der Atmosphäre filtern wird, wird einen Wert haben, weil durch das Abklingen der fossilen Energieträger braucht die Menschheit eine Kohlenstoffquelle, und diese Kohlenstoffquelle ist dann sinnvollerweise das CO2 aus der Atmosphäre. Nur heute muss das bereits bedacht werden, denn heute legen wir Regeln fest, wie zum Beispiel den CO2-Preis oder die ETS-Systeme, und die müssen eben in beide Richtungen gedacht werden. Wir denken heute nur an die negative Richtung, etwas zu entfernen, aber wir sollten auch gleich bedenken, dass es eine positive Richtung gibt. Diese positive Richtung ist, dass CO2 einen wirklichen Wert hat.
Es gibt Start-up-Unternehmen, die Ihnen erklären, sie hätten diese Technologie. Aber gemessen an der Tatsache, dass wir größenordnungsmäßig etwa 10.000 Millionen Tonnen CO2 aus der Atmosphäre pro Jahr zu entfernen haben, würde ich sagen: Nein, wir haben noch keine Technologie. Woher weiß ich, dass es 10.000 Millionen Tonnen sind? Das ergibt sich einfach aus Projektionen: Wie erreichen wir das 2-Grad-Ziel? Und hier kommen wir auf einen schwierigen Aspekt, der in der jetzigen Stellungnahme nicht verarbeitet ist, nämlich die Frage: Warum haben wir überhaupt ein 2-Grad-Ziel? Und das ist auch nicht so ganz einfach zu erklären. Es gibt keine naturwissenschaftliche Begründung für zwei Grad. Es ist einfach ein politisches Ziel, das man gesetzt hat, weil die wirkliche Klimaveränderung so schwierig zu verstehen ist, dass wenn man die Akteure der Energiewende mit dieser Frage konfrontieren würde, würde wahrscheinlich Chaos entstehen. Darum braucht man ein formales Ziel. Und wenn man dieses formale Ziel in die Klimamodelle einspeist, dann stellt man eben fest, dass man nach dem Jahr 2040 erhebliche Mengen von CO2 aus der Atmosphäre entnehmen muss.
Der Staat muss sichere Randbedingungen schaffen für die Energiewende, dass die privaten Akteure die Energiewende vollziehen. Und dabei muss der Staat einige Instrumente benutzen, um das zu steuern, und ich werde vier davon aufzählen. Das ist zum allerersten mal der CO2-Preis, das ist ein absolut unverzichtbares Element, das muss für alle Teile des Energiesystems gelten. Dann muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Energiewende kostet. Und deswegen braucht es einen sozialen Ausgleich, weil die Teilhabe aller Leute an der Energiewende ist natürlich ein zentrales Thema. Dann muss man darüber nachdenken: Wie kriegt man die Energiewende zum Laufen? Und da ist die Infrastruktur und insbesondere die Übertragungsinfrastruktur der Energiesysteme der entscheidende Hebel. Da muss der Staat steuernd eingreifen. Und weil das eine Aufgabe ist, die direkt etwas mit Macht zu tun hat, muss auch der Staat dafür sorgen, dass diese Infrastruktur nicht in fremde Hände gelangen kann. Und schlussendlich muss der Staat dafür sorgen, dass die Akteure international miteinander vernetzt sind und die Staaten sich auch miteinander vernetzen. Und das sind alles Aufgaben, die zunächst einmal wenig oder kein Geld kosten, aber die eben in einer geordneten Reihenfolge so vorgenommen werden müssen, dass sie auch von allen Menschen akzeptiert werden, die dort arbeiten. Und man muss sich darüber im Klaren sein, dass diese Festlegungen jahrzehntelang Gültigkeit haben müssen, denn der Umbau des Energiesystems ist nicht etwas Schnelles. Es vollzieht sich nicht in Jahren, sondern es vollzieht sich in Generationen.