Volker Meyer-Guckel, Generalsekretär des Stifterverbandes, spricht mit Manuel Dolderer, Co-Founder der CODE University, der als Gründer einer privaten Hochschule für eine neue Form des projektbasierten, anwendungsorientierten Lernens eintritt. Dass Deutschland bei digitalen Technologien allenfalls im Mittelfeld rangiert, liege zum Teil daran, dass der Veränderungsdruck noch nicht groß genug ist, zum anderen aber auch an Kompetenzmangel. Digitalisierung ist also auch eine Bildungsaufgabe, und in den bestehenden Strukturen gebe es Gestaltungsspielräume, die es zu nutzen gilt.
Ein Gespräch aus der Reihe "Die Gestalter"
Herr Dolderer, Sie sind Gründer, nicht nur irgendein Gründer, sondern Gründer einer privaten Hochschule in Deutschland, der CODE University, in der wir uns jetzt befinden, einer neuen Einrichtung. Und meine erste Frage an Sie ist: Was hat Sie damals bewogen, in dieses Feld zu gehen und dieses Risiko auf sich zu nehmen?
Es gab neben meinem Wirtschaftsstudium einen Reformstudiengang Medizin. Problembasiertes Lernen, angewandt auf die Medizin, und diesen Gedanken und was das mit den Studierenden gemacht hat, das fand ich sehr spannend, weil es am Ende dazu geführt hat, dass die Studierenden gar nicht was anderes lernen, aber die Art, wie sie es lernen, sehr viel studierendenzentrierter, sehr viel näher am Leben, am eigentlichen Problem oder in dem Fall am Patienten ist. Und meine Frage, die mich seither eigentlich beschäftigt, ist: Warum kann man dieses Prinzip nicht wirklich vollumfänglich anwenden auf den Lernort Hochschule? Und am Ende ist die CODE genau dieser Versuch, das mal konsequent zu Ende zu denken.
Wenn wir uns mal die Innovationsreports angucken, über Deutschland, was sind die Stärken/Schwächen, dann ist ja eines offensichtlich: Wir sind in den alten Technologien immer noch relativ gut dabei, aber immer wenn es um das Thema Digitalisierung geht, dann sind wir so im Mittelfeld oder im unteren Mittelfeld. Hat so etwas mit Geschäftsmodellen zu tun oder hat das auch etwas mit Kompetenzen und Einstellungen zu tun?
Also, ich glaube, es ist eine Mischung aus beidem. Zum einen sind alte Geschäftsmodelle ja noch erfolgreich. Das heißt, der Veränderungsdruck ist, glaube ich, noch nicht groß genug, dass man auch schmerzhafte Veränderungen antreten würde. Und das Zweite ist, dass natürlich auch ein Kompetenzmangel existiert, und zwar gar nicht so sehr im Praktischen, sondern eher so bei der Frage: Kann ich mir überhaupt vorstellen, was in Zukunft in der digitalen Welt möglich ist?
In vielen, vielen Ländern, also, von den asiatischen Ländern brauchen wir gar nicht zu reden, ist Informatik Pflichtfach in der Schule. In Deutschland tun wir uns schwer damit. Einige Länder haben das, andere Länder haben es nicht. Meinen Sie, das müsste man einführen in Deutschland oder geht's auch durch Integration von Computational Thinking in andere Fächer oder Projektkombinationen?
Also, ich glaube, wenn wir auf schulische Kontexte schauen, dann ist der letztere Ansatz der deutlich vielversprechendere. Ein zusätzliches Schulfach einführen, löst meines Erachtens überhaupt keine Probleme. Was ich ja schaffen muss, ist, dass Menschen in der Lage sind, Biologie, Physik, Mathematik, Geschichte im Kontext von digitalen Technologien zu denken, denn das ist ja, was bei jungen Menschen hängen bleiben soll. Nicht dass es da noch so ein zusätzliches Fach gibt, sondern dass sich alle Lebensrealitäten verändern durch diese Technologien, und dass sie begreifen, was das bedeutet, wie sich damit auch Zukunftsperspektiven verändern und wie ich Technologie als Werkzeug nutzen kann. Also, die Geschichtswissenschaften verändern sich, die Archäologie verändert sich, alles natürlich in der Biologie, die Landwirtschaft verändert sich. Also, sowohl die Wissenschaft als auch die praktischen Welten verändern sich durch die Technologien, und das kann ich schon in der Schule einbauen, wenn das in den Fächern vorkommt.
Ja, aber das setzt ja eine Schulrevolution voraus, weil dann sich praktisch alle Fächer auf diese Art von Lernen, Denken, Vermitteln einstellen müssen.
Ja! Da brauchen wir neue Lernkonzepte, und wir brauchen auch Lehrerinnen und Lehrer, Lehrkräfte, die selbst schon dieses Verständnis haben, um dann die Einsichten und die Begeisterung weitergeben zu können.
Also, ich denke, es gibt auch gute Argumente für Informatik als Pflichtfach. Also, wir haben das mal untersucht im Stifterverband. Wir haben mal das nationale Bildungspanel ausgewertet, und wir haben die Länder verglichen, die Informatik als Pflichtfach haben, diejenigen, die es als Wahlfach haben, und da, wo gar keine Informatik unterrichtet wird. So, das Interessante ist: Es macht kaum einen Unterschied, ob sie Informatik gar nicht anbieten oder als Wahlfach, was die Kompetenzen angeht und die Neigungen, dann in diese Richtung zu studieren. Entscheidend ist es dann, wenn man es als Pflichtfach einführt, und zwar aus zwei Aspekten. Erstens: Der Frauenanteil wächst deutlich. Und: Der Anteil aus bildungsfernen Schichten, der sich dann in diesen Fächern weiterentwickelt, wächst auch deutlich. Weil wenn Sie es als Wahlfach anbieten, dann haben Sie sozusagen nur die Nerds da drin.
Stichwort: Machtvolle Algorithmen. Also, da passiert ja im Augenblick viel, was generative KI angeht. ChatGPT ist überall in aller Munde. Das betrifft ja nicht nur die Technikwissenschaften, das betrifft ja die ganze Art und Weise, wie wir in Zukunft Texte produzieren, Kreativität neu denken. Ist das ein Thema für Sie? Sollte das ein Thema in den Hochschulen sein? Wie sollte man damit umgehen? Die einen sagen ja: Regulieren! Also, sofort die Schotten dicht machen. Und die anderen sagen: Let's try! Wie sehen Sie das?
Ich würde sagen, wir brauchen einen dritten Weg. Also, Schotten dicht machen unter gar keinen Umständen, das ist auch gar nicht aufzuhalten. Ich glaube aber auch nicht, dass es reicht, einfach nur ein bisschen zu experimentieren. Ich glaube, dass wir eine systematische Bildungsinitiative in dem Bereich brauchen, weil wir über das Experimentieren ein bisschen hinauskommen müssen. Denn diese Technologien, so mächtig sie sind, haben natürlich auch Gefahren, die sie mitbringen. Das heißt: Ich muss schon sehr bewusst an diese Experimente herangehen, mit überlegen, was produziere ich da eigentlich, was lasse ich zu, welche Daten teile ich eigentlich mit wem? Und wie nehme ich insbesondere meine Studierenden auf diese Reise sinnvoll mit? Das ist schon sehr voraussetzungsvoll, dass das gelingt. Und da muss man halt wirklich sagen: Da müssen sich die Lehrenden an den Hochschulen wirklich auch in der Pflicht sehen zu sagen: Ich muss es erstmal für mich verstehen, zumindest ansatzweise, so dass ich anfangen kann, mit meinen Studierenden darüber zu reden. Nicht denen zu sagen: Ich vermiete euch die Nutzung von diesen Tools und Algorithmen für Prüfungszusammenhänge, sondern genau diese Frage zu stellen: Wie verändert das denn das Lernen, das Studieren, das Arbeiten? Und wie verändert das auch die Zukunft, in die Ihr ja tätig werden wollt als Wissenschaftler oder als arbeitende Bevölkerung?
Das ist ja eigentlich auch die, sagen wir mal, regulatorische Idee, wenn man sie innovativ denkt. Dass man zunächst mal ausprobiert: Was heißt das für unseren Kontext? Was passiert damit, was passiert mit uns damit? Und dann versucht, anhand dieser Erfahrung dann möglicherweise ethische Leitplanken oder sonstwie Leitplanken zu setzen und nicht gleich am Anfang zu sagen: Es geht nicht! Und es dann den anderen das zu überlassen ...
Auf Ihrer Webpage habe ich, glaube ich, gelesen: Lernen durch Erschaffen. Finde ich auch eine schöne Begrifflichkeit. Ich glaube, dass die Art und Weise, wie wir uns an naturwissenschaftliche oder technische Themen annähern, anders unterrichtet werden kann. Würden Sie das teilen?
Zu hundert Prozent. Also, ich glaube, wir müssen ganz neu die Frage stellen: Wie schaffen wir Lernräume und Lernkonzepte, bei denen junge Menschen sich begeistern können? Und ins praktische Tun kommen. Also, experiencial learning auf Englisch, wo man über die eigene Erfahrung lernt und nicht berieselt wird und nur in der Theorie sich damit beschäftigt, vielleicht ab und zu mal irgendwo eine Projektwoche hat, die dann total frustrierend ist, weil keiner weiß, wir man als Team zusammenarbeitet und eigentlich erfolgreich Projekte macht. Und ich glaube, dann gelingt auch, dann springt dieser Funke auch über.
Der Engländer sagt: The proof is in the pudding. Ich würde Sie jetzt fragen: Welche Chancen haben denn Ihre Absolventen und Absolventinnen auf dem Arbeitsmarkt?
Also, wir haben jetzt knapp 80 Absolventinnen und Absolventen, und die können sich ihre Jobs quasi aussuchen. Die Frage, die uns gerade beschäftigt, ist viel eher: Wieviele von denen suchen überhaupt einen traditionellen Job? Weil wir auch sehen, dass sich fast jeder zehnte CODE-Studierende selbstständig macht. Die gründen ganz viele Start-ups, weil sie so viele Ideen haben und so viel Unternehmergeist haben, dass Sie sagen: Warum soll ich mich denn irgendwo anstellen lassen? Ich kann doch auch selber was machen.
Was würden Sie öffentlichen Hochschuleinrichtungen sagen? Ist das Konzept in irgendeiner Weise übertragbar? Ist es in Teilen übertragbar? Was könnten die nächsten kleinen Schritte sein, um sich Ihrem Ideal des neuen projektbasierten, anwendungsorientierten Lernens anzunähern?
Ich glaube, wonach man suchen muss, ist, dass man in einem bestimmten Bereich einer Universität oder einer Fachhochschule einen kleinen Kreis von Willigen findet, die sagen: Wir in unserem Fachbereich, wir mit unserem Studiengang, wir fangen jetzt mal an, das neu zu denken. Ich glaube, wir haben an vielen Stellen so eine Art vorauseilenden Gehorsam, wo wir denken: Das muss man so machen, weil wir das immer schon so gemacht haben. Und wenn man dann aber mal anfängt zu prüfen und zu schauen und zu gucken, zwischen den Zeilen zu lesen, dann stellt man fest: Da gibt es ganz viel Gestaltungsspielraum, den wir noch gar nicht ausnutzen. Und wenn man eine kleine Gruppe von Willigen findet, die bereit sind, das auszuloten, dann kann man auch in etablierten Hochschulen, glaube ich, vieles bewegen.
Vielen Dank, Herr Dolderer, Sie haben ja fast die Agenda des Stifterverbandes jetzt in Ihren Worten zusammengefasst, weil wir natürlich genau an diesen kleinen Communities der Willigen, der Vordenker arbeiten. Weil wir auch wissen, es geht nur mit denen. Es geht aber auch nicht ohne die Veränderung von Rahmenbedingungen, von Möglichkeitsräumen.