Michael Kaschke, Präsident des Stifterverbandes, spricht mit Heyo M. Kroemer, dem Vorstandsvorsitzenden der Charité in Berlin, über die Veränderungen, die die Digitalisierung im Gesundheitswesen mit sich bringt. Nicht nur die medizinische Versorgung, auch die Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern werde sich erheblich wandeln. Digitale Technologie bietet auch großes Nutzenspotenzial für die Gesundheitswirtschaft, etwa wenn Doppeluntersuchungen entfallen, weil alle relevanten Daten in einer elektronischen Patientenakte erfasst sind.
Ein Gespräch aus der Reihe "Die Gestalter"
Herr Kroemer, erstmal vielen Dank, dass Sie Zeit haben für uns hier auf diesem historischen Gelände. Wir wollen uns mit ein paar Themen zur Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft beschäftigen, aber auch mit dem Thema Roadmapping. Wir sind hier auf historischem Boden. Was ist das Besondere an der Charité für Sie?
Wir haben auf der einen Seite diesen einmaligen Namen an der Haustür stehen, der ja eine gewisse weltweite Bekanntheit hat, wobei man immer daran denken muss, dass Charité übersetzt Herzlichkeit bedeutet. Das heißt, das ist für uns eine Aufgabe in der Patientenversorgung und gleichzeitig versuchen wir sowohl im Zusammenspiel mit der Lehre, also der Ausbildung junger Ärzte als auch im Zusammenspiel mit der Forschung und hier insbesondere im Bereich der Translation, also der Übertragung von neuen Erkenntnissen ans Krankenbett, international führend zu sein.
Wo würden Sie die Charité selber sehen wollen in zehn Jahren?
Wenn ich mir das frei wünschen könnte, würden wir in den nächsten zehn Jahren einen massiven Transformationsprozess durchlaufen hier an der Charité. Wir sind hier der festen Überzeugung, dass Medizin sich in den nächsten zehn Jahren wirklich fundamental ändern wird, dadurch dass wir über Sensorik im Grundsatz die Möglichkeit haben, Patienten ganz anders als bisher in ihrer Häuslichkeit zu begleiten, permanent Informationen zu bekommen, die unmittelbar behandlungsrelevant sind, so dass sich viel von dem Geschehen herausbewegen wird aus Krankenhäusern in die Häuslichkeit von Patienten. Wir haben deswegen eine Strategie gemacht, weil wir in diesem Zusammenhang wirklich der Überzeugung sind, dass das, was in der Vergangenheit an Medizin gemacht wurde, sich in erheblichen Teilen ändern wird. Es gibt auch Teile, die mit Sicherheit erhalten bleiben. Ich gehe mal davon aus, dass in zehn Jahren ein Neonatologe und im weiteren Sinne auch ein Chirurg ähnliche Dinge machen wird, dass aber viele Sachen, insbesondere über digitale Informationen anders bearbeitet, behandelt und beeinflusst werden können, als wir das heute tun.
Wir sind gerade durch die Hörsäle und die Präparationssäle gelaufen. Wird sich denn auch die Lehre verändern? Die Medizin hat ja traditionell am lebenden oder sogar toten Objekt studiert. Wird da die Digitalisierung auch Veränderungen bringen in der Lehre?
Ich gehe fest davon aus. Wir haben in Teilen aus guten Gründen auch noch speziell in der Anatomie konventionelle Lehrformen. Wenn Sie etwa in die USA gehen, da sind diese Lehrformen überwiegend auf Digitalisierung umgestellt worden, ohne dass jetzt die Qualität der amerikanischen Ärzteschaft sich deutlich verändert hätte. Das heißt, ich gehe davon aus, dass diese Dinge sich anpassen. Auf der anderen Seite ist Digitalisierung auch nie ein Selbstzweck, und vielleicht wäre es durchaus auch von Interesse, langfristig kombinierte Methoden zu haben, das heißt, Digitalisierung auf der eine Seite zu haben, aber vielleicht auch gerade in der Anatomie konventionelle Anatomie.
Man spricht ja heute viel von hybridem Lernen, von hybriden Methoden.
Ja, Herr Kroemer, jetzt waren wir in dem historischen Teil. Hier sind wir im ganz modernen Teil. CCO heißt das, Charité CrossOver. Was wollen Sie damit, was soll das bedeuten?
Damit soll symbolisiert werden, dass hier Aspekte der Lehre, also der Ausbildung, und Aspekte der Wissenschaft extrem eng verknüpft sind.
Was würden Sie als die großen Potenziale sehen, die großen Nutzenseffekte aus der Digitalisierung? Digitalisierung per se ist ja erstmal noch kein Wert. Da kann man ja auch viel Zeit verlieren. Aber die Erwartung ist ja, dass es da ganz klare Nutzenspotenziale gibt. Welche sehen Sie da besonders?
Ich sehe als zunächst mal größten Nutzen die Verfügbarkeit aller bisher erzielten und gesammelten Informationen. Wenn Sie sich vorstellen, dass heute jemand mit einer langen Krankheitskarriere in ein Krankenhaus kommt und überhaupt nicht an irgendeinem zentralen Punkt alle Informationen zusammengestellt sind, die man benötigt, um eine erfolgreiche Behandlung durchzuführen, ist das einfach schlecht, aus verschiedenen Gründen schlecht. Einmal weiß man zu wenig über die individuelle Person in Notfallsituationen. Dann hat das einen ganz erheblichen Qualitätsaspekt. Ich bin der Überzeugung, dass eine auf digitalen Informationen basierte Medizin wesentlich bessere Qualität generieren kann, die wir heute in der Form nicht erreichen können. Und außerdem hat es natürlich einen extremen Effekt hinsichtlich des wissenschaftlichen Potenzials. Wir könnten mit diesen Informationen, die in Anführungsstrichen sogenannte Sowieso-Informationen sind, weil Sie sie heute auch haben, aber sie heute nicht in der Form nutzen können, wie wir das wollen, eben ganz erhebliche wissenschaftliche Fortschritte erzielen, neue Erkenntnisse gewinnen, neue Behandlungsformen etablieren, so dass die Digitalisierung der Information ein ganz breites Spektrum macht, von einer deutlichen Qualitätsverbesserung auf der einen Seite bis hin zu einer Verbesserung wissenschaftlicher Erkenntnis auf der anderen Seite.
Sehen Sie aus der Digitalisierung auch ein Potenzial, dass man Abläufe, Prozesse innerhalb des Gesundheitswesens anders gestalten, effizienter gestalten kann, die vielleicht auch größere Nutzenspotenziale haben sowohl für den Patienten als auch für die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen?
Ich glaube, Herr Kaschke, da kann man ganz einfach anfangen. Wenn man solche Informationen hätte, würde man im wesentlichen zum Beispiel Doppeluntersuchungen vermeiden können, die heute sehr klar das Gesundheitssystem in nicht unerheblicher Art und Weise belasten, wenn man diese Informationen zusammenführen könnte. Und wir haben eben sehr eindrucksvolle Beispiele in der Covid-Krise gesehen, wo wirklich schwerstkranke Menschen in die Charité kamen. Wir waren hier das Zentralkrankenhaus für Berlin und darüber hinaus. Und wir hatten vielfach nicht unmittelbar die Informationen verfügbar, um sie erfolgreich zu behandeln. Also, wie gesagt, ein breiter Aspekt von Qualität bis zum Erfolg. Und, weil Sie danach gefragt haben, auch eine ganz klare Kostenfrage. Wenn ich Dinge nicht doppelt machen muss, ist es einfach günstiger.
Wenn wir nachgucken, was Ihr Smartphone alles an Daten über Sie sammelt und wahrscheinlich völlig ungehindert weitergibt, ist man ja erstaunt. Im Bereich der Medizin sind wir in Deutschland glücklicherweise in der Situation, eine hohe Aufmerksamkeit auf Datenschutz zu haben. Wir sollten uns vielleicht in den nächsten Jahren intensiver damit beschäftigen, wie man die gut geschützten Daten in einer vernünftigen Art und Weise so nutzen kann, dass dieser Nutzen der gesamten Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird. Menschen, die schwere Krankheiten haben, sagen, dass sie bereit sind, diese Informationen zu teilen, damit es den nächsten sozusagen dann wieder besser geht. Und von daher glaube ich, muss man die Bemühungen rund um Datenschutz vielleicht auch in diesem Sinne nochmal neu bewerten, weil ich glaube, viele Menschen dann durchaus auch ein gewisses Maß an Altruismus an den Tag legen und sagen: Ich gebe meine individuellen Daten, damit es den nächsten besser geht.
Der Stifterverband, zusammen mit Leopoldina und der VolkswagenStiftung, hat auf dem diesjährigen Forschungsgipfel das Thema Roadmapping sehr stark platziert, weil man unserer Meinung nach gerade bei komplexen Prozessen klare Roadmapprozesse braucht und nicht in Einzelmaßnahmen, die sich zum Teil widersprechen, verfallen. Sehen Sie einen derartigen Roadmapprozess derzeitig installiert in Deutschland für die Gesundheit, für die Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Ich glaube, dass es bestimmte Ansätze dafür gibt, aber ich hatte vorhin schon mal die Gesetzesvorhaben im BMG genannt, die in Richtung eines Roadmapprozesses gehen. Man könnte es sicherlich noch sehr stark komplettieren durch andere Aspekte, also bessere Integration etwa des ambulanten Sektors und ähnliche Dinge. Und meines Erachtens ist es unumgänglich, bei dieser Form komplexer Gesamtvorhaben tatsächlich sich eine Roadmap zu überlegen. Die nächste Frage, die dann immer in der Bundesrepublik kommt, ist, wer am Ende des Tages diese Roadmap dann durchsetzt, politisch, und sie finanziert. Aber als Ausgangspunkt einen Roadmapprozess zu nehmen, gerade auch in der Digitalisierung, würde ich persönlich für sehr sinnvoll halten.
Ganz zum Schluss eine persönliche Frage: Was finden Sie so eines der spannendsten Digital-Projekte oder Digitaltechnologie-Projekte in der Medizin, was Sie persönlich begeistert?
Was mich persönlich begeistern würde, ist, wenn es uns gelingen würde, die im Moment noch sehr hohe Hürde zwischen einer stationären Versorgung und einer ambulanten Versorgung praktisch vollständig aufzuheben. Also, in der Summe ein holistisches Bild von Versorgung zu erzeugen, was technologiebasiert ist, was auf der anderen Seite aber vielleicht auch durch die technologischen Fortschritte Zeit freisetzt, um sich Menschen individueller zuwenden zu können. Das wäre schon etwas, das mich sehr faszinieren würde.
Dass der menschliche Aspekt nicht verloren geht.
Wenn die Charité dazu ein bisschen beitragen würde, würde ich mich freuen.