MINT-Fachkräfte · Zukunftsmission Bildung

Die Anziehungskraft stärken

Illustration Arbeitsmarkt MINT-Fachräfte
MINT-Fachkäfte sind überaus begehrt (Illustration: Bernd Struckmeyer)
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An ihre erste Bewerbung in Deutschland erinnert sich Daria Kolmykova noch sehr eindrücklich: „Es kommt stark auf die Formalitäten an“, trichterte ihr ein Freund vorher ein, „bis hin zur richtigen Anrede muss alles passen!“ Ein paar Jahre liegt dieser Start in das Berufsleben im Bereich der digitalen Medien nun zurück, und inzwischen kann die junge Russin darüber schmunzeln. Jetzt engagiert sie sich an ihrer früheren Alma Mater, der Technischen Hochschule Brandenburg, für die jüngeren Studierenden, die in einer ähnlichen Situation sind, wie sie damals.

Dahinter steckt eine Herausforderung von großer Tragweite für den Standort Deutschland: Die ausländischen Absolventinnen und Absolventen, die hierzulande ein Fach aus dem Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (kurz: MINT) studiert haben, sind gefragte Fachkräfte. „Das ist eine sehr wichtige Gruppe“, bestätigt etwa Rainer Schmidt-Rudloff, der beim deutschen Mikrochip-Hersteller Infineon die Beziehungen zu den Hochschulen verantwortet. 200.000 MINT-Fachkräfte fehlen derzeit in deutschen Firmen – und viele Stellen ließen sich kaum noch besetzen, wenn es keine ausländischen Personen gäbe, die sich darauf bewerben.

Immerhin: Die Zahl der Studierenden wächst, und international liegt Deutschland auf Platz drei der Länder mit den meisten ausländischen Studierenden – hinter den USA und Großbritannien. „Dass die Zahlen steigen, verdanken wir vor allem den internationalen Studierenden“, sagt Infineon-Experte Schmidt-Rudloff, „und das gilt insbesondere im MINT-Bereich.“ In keinem anderen Fach ist ihr Anteil höher als in den Ingenieurwissenschaften, hat unlängst die Bertelsmann-Stiftung ermittelt: Die Quote dort liegt bei 25,6 Prozent. Diese Studierenden nach ihrem Abschluss im deutschen Arbeitsmarkt zu halten, ist zu einer Schlüssel-Herausforderung für die Wirtschaft geworden.

Porträt Carsten Busch
Carsten Busch (Foto: HTW Berlin/Miguel Hahn)
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„Ich glaube nicht, dass wir ermessen können, welchen Schatz wir da haben!“

Carsten Busch
Professor für Informatik, Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin

Wenn sich Carsten Busch in seinem Team umschaut, fällt ihm die Internationalität auf den ersten Blick auf. Er ist Informatikprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er in der Lehre tätig. „So vielfältig wie heute“, sagt er, „war es noch nie!“ Seine Studierenden kommen von allen Kontinenten, viele Personen aus der Belegschaft und dem Kollegium haben ausländische Wurzeln, in Seminaren wird ganz selbstverständlich zwischen Deutsch und Englisch gewechselt. „Ich glaube nicht”, sagt Carsten Busch, „dass wir ermessen können, welchen Schatz wir da haben!” Informatiker Busch ist Co-Sprecher des Nationalen MINT-Forums, in dem sich Stiftungen, Wissenschaftseinrichtungen, Verbände und Vereine zusammengeschlossen haben, um die MINT-Bildung zu verbessern. Seine Beobachtung: „Deutschland und auch die beteiligten Institutionen sind viel gastfreundlicher, als wir selbst manchmal glauben. Trotzdem gibt es Punkte, an denen wir etwas verbessern können.“

Für Carsten Busch stecken in dem Thema der Internationalität zwei Dimensionen: Dimension eins ist die Gewinnung von internationalen Studien-Interessenten. 370.00 derer, die in Deutschland studieren, haben ihr Abitur nicht an einer deutschen Schule gemacht. Und mehr als die Hälfte von ihnen wählten ein Studium aus dem Bereich Ingenieurs- und Naturwissenschaften oder Mathematik – 190.000 waren es im Jahr 2021, diese Zahl hat sich innerhalb von acht Jahren mehr als verdoppelt. „Unser Ruf ist gerade in den MINT-Fächern nach wie vor ausgezeichnet”, konstatiert Carsten Busch.

„63 Prozent der ausländischen Absolventinnen und Absolventen sind nach fünf Jahren noch in Deutschland, nach zehn Jahren sind es immerhin noch 45 Prozent und damit mehr als in allen anderen Ländern.“

Arbeitsmärkte weltweit stehen im Wettbewerb

Bei Dimension zwei wird es schwieriger: Das ist der Übergang in den Arbeitsmarkt. Fachleute sprechen von einer „Bleibequote“ vom Anteil derer also, die auch nach dem Abschluss in Deutschland bleiben. Und da ist die Ausgangslage gut: 63 Prozent der ausländischen Absolventinnen und Absolventen sind nach fünf Jahren noch in Deutschland, nach zehn Jahren sind es immerhin noch 45 Prozent und damit mehr als in allen anderen Ländern. Diese Zahlen zeigen aber auch: Es gibt viele, die eben nicht in Deutschland bleiben.

An der Nachfrage liegt das jedenfalls nicht. Busch spricht gern von einem „großen Magneten“, wenn er auf seine Informatik-Studierenden schaut sie alle werden vom Arbeitsmarkt innerhalb kürzester Zeit aufgenommen. „Ab dem Bachelorabschluss sind die Absolventinnen und Absolventen in den MINT-Studiengängen durchweg gefragt”, sagt er. Das Problem daran ist nur: Diese Nachfrage kommt nicht nur aus Deutschland. Hiesige Arbeitgeber konkurrieren mit Job-Angeboten aus den Herkunftsländern der Graduierten, aber auch aus Kanada, den USA oder Europa.

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„Viele Umfragen zeigen, dass es gerade ausländischen Absolventinnen und Absolventen sehr schwerfällt, den Kontakt zur Wirtschaft und zu Unternehmen zu finden“, sagt Susanne Müller, stellvertretende Leiterin der Abteilung Bildung bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Genau das sei der sensible Punkt: „Wie schaffen wir es, die Verbindungen so frühzeitig herzustellen, dass die Studierenden erst gar nicht darüber nachdenken, in ein anderes Land abzuwandern?“ Susanne Müller beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Frage.

Im Hintergrund hat in dieser Zeit ein regelrechter Kulturwandel stattgefunden: Lange Zeit seien ausländische Studierende in Deutschland als eher akademischer Beitrag zur Internationalisierung gesehen worden – und niemand habe sich nach deren Studienabschluss darum gekümmert, wo sie sich für ihren weiteren Lebensweg niederließen. Das ändere sich gerade grundlegend. „Und wir müssen immer wieder das Signal senden, dass sie nicht nur als Studierende in Deutschland willkommen sind, sondern erst recht als gut qualifizierte Absolventinnen und Absolventen“, sagt Susanne Müller. Die rechtlichen Rahmenbedingungen seien dabei kein entscheidendes Problem mehr. „Die Absolventinnen und Absolventen haben eigentlich ausreichend Zeit, sich auf die Suche nach einem Arbeitgeber zu machen. Früher mussten sie um ihre Aufenthaltserlaubnis fürchten, wenn sie nicht in verhältnismäßig kurzer Zeit nach dem Studium einen Arbeitsvertrag vorweisen konnten. Diese Fristen haben sich deutlich verlängert.“

Kulturwandel auch an Hochschulen

Diesen Kulturwandel hat Angela Ittel ebenfalls beobachtet. Sie ist Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig und Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz. „An den Hochschulen ist in den vergangenen Jahren unwahrscheinlich viel passiert“, bilanziert sie – jede Hochschule hat ein international office, es gibt Karriereberatungen, Sprachkurse und jede Menge weiterer Angebote für internationale Studierende. Das eigentlich Entscheidende aber sei, schon während des Studiums eine emotionale Bindung herzustellen – wer sich als Studierender in Deutschland wohlfühlt, davon ist Angela Ittel überzeugt, der entscheidet sich auch leichter dafür, nach dem Abschluss im Land zu bleiben. Genau an der Stelle könnten Regionen wie Braunschweig punkten: „Wir haben eine ungemein starke Wirtschaft mit hochinteressanten Unternehmen in der Umgebung“, sagt sie. „Deshalb profitieren wir alle davon, wenn die ausländischen Studierenden hier schon frühzeitig Wurzeln schlagen – nicht nur in Deutschland, sondern ganz konkret in dieser Region.“

Die Verantwortung dafür sieht sie auch bei den potenziellen Arbeitgebern: „Wenn sie Praktikumsplätze anbieten oder es ermöglichen, im Betrieb die Abschlussarbeit zu schreiben, dann entsteht dadurch – neben dem Gewinn der praktischen Erfahrung - genau diese emotionale Bindung.“ Sie selbst ist deshalb unermüdlich unterwegs zu den Unternehmen in der Region, um Netzwerke aufzubauen. Noch gebe es da aber Verbesserungsbedarf: In der Praxis zeige sich, dass es für internationale Studierende teils nicht ganz einfach sei, beispielsweise Praktikumsplätze zu finden oder in den Unternehmen nach dem Studium anzukommen. 

Porträt Angela Ittel
Angela Ittel (Foto: Philipp Arnoldt/TU Braunschweig)
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„Es profitieren alle davon, wenn die ausländischen Studierenden hier schon frühzeitig Wurzeln schlagen.“

Angela Ittel
Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig

Und dann ist da noch ein zweites Problem: Unter den ausländischen Studierenden ist die Abbruchquote überproportional hoch, hat das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) ermittelt. 28 Prozent der deutschen Studierenden verlassen die Hochschule vor dem Bachelorabschluss – unter den ausländischen Studierenden sind es 41 Prozent. Was man da machen kann? Angela Ittel hat verschiedene Ideen. „Meine Wunschvorstellung wäre ein Orientierungsstudium, das am besten auf Englisch angeboten wird. Es bietet die Chance, sich in Deutschland und an der Hochschule zu akklimatisieren, die Sprache zu lernen und sein Studienfach schon einmal kennenzulernen.“

Eine andere Initiative möchte die TU Braunschweig stärken: Sie bietet akademische Weiterbildung für erfahrene MINT-Graduierte aus aller Welt an – besonders zu den Inhalten, die für Unternehmen aus der Region relevant sind. „Damit können sie internationale Fachkräfte für ihren Bedarf fortbilden“, sagt Angela Ittel, „und gleichzeitig kommen sie in Kontakt mit Personen, die für die Weiterbildung nach Deutschland kommen.“

Wie viele Ansätze es gibt, schon im Studium die Weichen so zu stellen, dass internationale Studierende zum Bleiben ermutigt werden, zeigt ein Wettbewerb des Stifterverbandes: MINTchallenge International heißt er, und ausgezeichnet wurden unterschiedliche Konzepte aus ganz Deutschland. Die Technische Hochschule Brandenburg etwa, an der die junge Russin Daria Kolmykova den Studierenden dabei hilft, anzukommen, richtet neben den Angeboten, die es zur Vorbereitung auf das Berufsleben bereits gibt, zusätzlich ein Café für ausländische Studentinnen ein. „Wir wollen damit einen Raum schaffen, in dem Studentinnen sich austauschen, vernetzen und Unterstützung erhalten können, denn viel zu oft gehen ihre Anliegen sonst unter“, sagt Initiatorin Daniela Stokar von Neuforn, die das Hochschulzentrum Studierendenservice leitet.

Wie schwierig der Übergang in den Arbeitsmarkt ist, merkt sie bei ihren Beratungsgesprächen immer wieder – allein schon aufgrund kultureller Unterschiede: „Jordanier zum Beispiel kennen es aus ihrer Heimat, dass die Hochschule ihnen zum Teil die Erstanstellung vermittelt“, erzählt sie. Andere Hochschulen, die beim Stifterverbands-Wettbewerb gewonnen haben, setzen auf Karrieremessen, eine direkte Betreuung durch einen Coach oder gemeinsame Projekte mit Studierenden, um sie dadurch an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
 

„Wir sind unheimlich froh um internationale Fachkräfte, denn dank ihnen können wir unseren Talentpool gewaltig erweitern!“

Rainer Schmidt-Rudloff
Rainer Schmidt-Rudloff (Foto: Infineon)
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Rainer Schmidt-Rudloff
Infineon

Bei Infineon, dem deutschen Chip-Riesen, hat man gute Erfahrungen damit gemacht, die ausländischen Studierenden schon während des Studiums kennenzulernen – Dutzende Werksstudierende arbeiten im riesigen Forschungs- und Entwicklungszentrum in München und am Standort in Dresden. „Dadurch merken sie, wie attraktiv die Branche ist“, sagt Rainer Schmidt-Rudloff. Und: „Bei uns sind Deutschkenntnisse kein Einstellungskriterium. Da kommt uns die internationale Unternehmenskultur zugute – ohnehin läuft fast alles auf Englisch.“ Eins ist ihm besonders wichtig: Wenn das Unternehmen internationale MINT-Absolventen einstellt, dann nicht, um eine Lücke zu füllen. Sie brächten im Gegenteil auch Fertigkeiten mit, die sonst fehlen würden. „Wir sind unheimlich froh um sie, denn dank ihnen können wir unseren Talentpool gewaltig erweitern!“

Cover Publikation
Foto: Stifterverband
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Zwischen Willkommen und Wirklichkeit

Neue Studie des Stifterverbandes

Der Stifterverband setzt sich dafür ein, den Übergang der internationalen MINT-Absolventen auf den deutschen Arbeitsmarkt zu verbessern. Die Allianz für MINT-Fachkräfte ist ein wichtiger Bestandteil der Zukunftsmission Bildung – der großen Initiative, mit der der Stifterverband ein Bildungssystem für eine Welt im Wandel gestalten will. In der aktuellen Studie Zwischen Willkommen und Wirklichkeit  hat der Stifterverband Fakten und Hintergründe zur Lage der internationalen MINT-Absolventen und wie deren Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt besser gelingen kann, zusammengestellt. 

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