Das mit dem kleinen Bahnhof am Rand des Ballungsraums ist ein typischer Fall: Die Hochschule vor Ort würde ihn gern als Ideenlabor verwenden, aber Umweltschützer fürchten um die Ruhe für das angrenzende Biotop, die Anwohner wollen die gute Erreichbarkeit per Bahn auf jeden Fall erhalten und die lokalen Unternehmen überlegen auch, wie ihnen die Flächen helfen könnten. Viele Beteiligte und alle mit eigenen Interessen – wie lassen die sich unter einen Hut bringen?
Der Bahnhof ist Teil eines Planspiels, das gerade im Projekt innOsci entsteht, dem Forum für off ene Innovationskultur des Stifterverbandes, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Fellows aus der Wissenschaft, aus Hochschulverwaltungen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft stecken dort die Köpfe zusammen, um gemeinsame Wege zu finden – obwohl (oder gerade weil) jeder mit einem völlig anderen Blick an die gemeinsamen Themen herangeht. Das digitale Planspiel, in dem der fiktive Bahnhof im Mittelpunkt steht, soll künftig überall in Deutschland eingesetzt werden und ein Training dafür sein, sogenannte Multi-Stakeholder-Prozesse möglichst reibungslos zu organisieren.
innOsci ist eines der Projekte, in denen sich der Stifterverband mit einem zentralen Thema der Gegenwart beschäftigt: mit dem Transfer von Wissen und Innovationen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland ist mit seiner einzigartigen, vielseitigen Wissenschaftslandschaft in der Grundlagenforschung sehr gut aufgestellt; die Herausforderung besteht allerdings darin, die dort gewonnenen Erkenntnisse auch für die Wirtschaft nutzbar zu machen. Häufig wird ein Beispiel aus der Vergangenheit angeführt, bei dem genau das nicht funktioniert hat: Das MP3-Format für Audiodaten ist in Deutschland entwickelt worden – das milliardenschwere Geschäft damit, das die gesamte Musikbranche umgekrempelt hat, machten allerdings vor allem amerikanische Firmen. So etwas – da sind sich alle einig – soll nicht noch einmal passieren.
Die derzeitigen Herausforderungen indes haben nochmals ein anderes Gewicht: Gerade geht eine fundamentale Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft vor sich, die von der Energie- und Mobilitätswende über eine Umgestaltung des Gesundheitswesens bis hin zur alles dominierenden Digitalisierung reicht. Wenn Deutschland an der Weltspitze dabei sein will, ist die Verknüpfung von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft unabdingbar. Die Bereiche müssen verbunden werden.
Genau mit diesem Brückenbauen hat der Stifterverband seit seiner Gründung vor mehr als 100 Jahren reiche Erfahrungen gesammelt. Er ist als Analyst aktiv, als Förderer, als Impulsgeber und eben als Netzwerker: Er zeigt mit seinen Daten und Analysen, was im Wissenschafts- und Innovationssystem nötig ist. In einem zweiten Schritt zeigt er in seiner Förderarbeit, wie sich die Ideen konkret umsetzen lassen – und schließlich sorgt er durch seine Netzwerkarbeit und politische Meinungsbildung dafür, dass erfolgreiche Projekte flächendeckend implementiert werden. Er setzt sich dabei für eine off ene Wissenschaft ein, die unter anderem auf den Grundsätzen von Open Data und Co-Creation basiert. Wo es um die Unterstützung von Wissenstransfer geht, gelten die gleichen Bedingungen wie auch in der Forschung, wenn sie auf der Suche nach neuen Ideen ist: Risikofreude gehört dazu, die Lust auf unerkundete Wege – und fundiertes Wissen. Um dieses Wissen zu generieren, erhebt der Stifterverband dringend benötigte Daten zum Thema Transfer und Innovation.
Im Transferkompass etwa untersucht der Stifterverband, wie Hochschulen den Transfer als strategische Aufgabe in ihren Strukturen verankern können. Die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten Projekts liegen im Herbst 2022 vor – eins zeigt sich allerdings schon jetzt: Während die Forschungsausgaben von Unternehmen über Jahre gestiegen sind (lediglich die Pandemie hat sie etwas ausgebremst) und ihre eigenen Entwicklungsabteilungen wachsen, ist der Anteil der Auftragsforschungsgelder, die an inländische Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen fließen, stark zurückgegangen (von knapp 22 Prozent im Jahr 2005 auf gut neun Prozent im Jahr 2019). In ihnen forschen Wissenschaftler im Auftrag von Unternehmen. Damit wird ein wichtiger Bestandteil des Austauschs gekappt – ob das an komplizierter Bürokratie, an inkompatiblen Transparenzanforderungen, an mangelnder Flexibilität oder ganz anderen Ursachen liegt, auch das soll in der Untersuchung geklärt werden. Und damit auch, wie sich die negative Entwicklung umkehren ließe.
Und im Transferbarometer, das der Stifterverband gemeinsam mit der Helmholtz-Gemeinschaft und gefördert von der Stiftung Mercator entwickelt hat, können die Transferleistungen und Kooperations beziehungen systematisch erfasst und weiterentwickelt werden. Es bietet Hochschulen und Forschungseinrichtungen strategischen Entwicklung eines Transfer- und Kooperationsprofils.
Neben dem MP3-Beispiel, bei dem der Transfer nicht geklappt hat, gibt es noch ein zweites, aktuelles Beispiel, das mehr Mut macht: Das Mainzer Unternehmen BioNTech ist ursprünglich aus der universitären Forschung hervorgegangen und wurde mit seinem mRNA-Impfstoff zum weltweit bewunderten Helfer im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie. Hier hat sie geklappt, die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft, von Akademikern und Managern.
Denn neu ist an den Innovationsprozessen, die derzeit ablaufen, vor allem ihre Komplexität. Längst sind es nicht mehr einzelne Tüftler, die im eigenen Labor einen Durchbruch erzielen, sondern große Teams mit Know-how aus den unterschiedlichsten Bereichen. Und: Wirtschaft und Wissenschaft kommen kaum ohne Zusammenarbeit mit der je anderen Seite weiter. Es entstehen regelrechte Innovations-Ökosysteme, in denen Wissen nicht mehr einseitig von der Wissenschaft in Richtung Wirtschaft fließt, sondern in denen es zu Kreisläufen kommt. Im Bereich der Genomforschung arbeiten Wissenschaftler aus Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen eng zusammen, weil jeder andere Schwerpunkte mitbringt und andere Sichtweisen besitzt, die sich gut ergänzen. Oder wenn in der Klimaforschung beispielsweise Luftfahrtunternehmen auf ihren Flügen Klima- und Wetterdaten sammeln, die sie dann Forscherinnen und Forschern zur Verfügung stellen, ist auch das ein Beispiel dafür, wie eine Zusammenarbeit aussehen kann. Und manchmal verändern sich auch die Gewichtungen: Bei der Digitalisierung oder hochkomplexen Blockchain-Projekten zum Beispiel sind es häufig Unternehmen und nicht Universitäten, die an der Speerspitze der Forschung unterwegs, aber auf eine enge Zusammenarbeit dringend angewiesen sind.
Der Stifterverband ist in beiden Sphären zu Hause – in der Wirtschaft und in der Wissenschaft. Diese prägende Verbindung ist es, auf der er seine Instrumente aufbaut und in die Know-how aus beiden Seiten einfließt. Ein Beispiel: Im Transfer-Audit entwickeln Hochschulen ihre Kooperationsstrategie mit Partnern aus Wirtschaft, Politik, Kultur und öffentlichem Sektor weiter. Ein Jahr lang stellt der Stifterverband den beteiligten Hochschulen erfahrene Transfer-Experten zur Seite. Diese untersuchen, wie gut es der Hochschule gelingt, ihr Wissen mit Gesellschaft und Wirtschaft zu teilen – und die beraten, an welchen Stellschrauben die Hochschule drehen kann, um noch besser zu werden. Insgesamt 52 Hochschulen konnte der Stifterverband so bei der Entwicklung ihrer Transfer-Aktivitäten unterstützen.
Im Projekt Innovation Hubs@Campus wurde von 2019 bis 2021 die Entwicklung neuer Experimentierräume für Forschung, Lehre und Innovation unterstützt. Insgesamt waren 15 Hochschulen beteiligt, die einen jeweils eigenen Ansatz ausprobierten. Mal wurden gezielt Bürger eingeladen, sich an den Innovationsprozessen zu beteiligen, mal steckten Pflege-Experten und Mediziner die Köpfe zusammen, um Innovationen für den Gesundheitssektor zu erarbeiten, bei anderen Projekten ging es um Start-up-Gründungen oder um die Organisation kreativer Geschäftsmodelle. Das Ziel war es überall, die regionalen Innovations-Ökosysteme zu stärken – und zu erproben, wie sich neue Ideen an Hochschulen gezielt fördern lassen. Ein erstes Fazit aus dem Programm: Wichtig ist es, langfristig zu denken und möglichst weite Teile der Hochschule einzubeziehen, etwa durch die Verankerung in verschiedenen Curricula. Bewährt hat es sich auch, einen konkreten Ort einzurichten, an dem sich die Interessenten und Beteiligten treffen und austauschen können.
Und bei innOsci, dem Forum für offene Innovationskultur, erarbeiten Forscherinnen, Forscher, Innovationsmanagerinnen und -manager aus der Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsame Strategien für den Austausch über die Grenzen von Insti tutionen und Fachkulturen hinweg – und erproben selbst, welche Haltung, welche Fähigkeiten und Methoden notwendig sind, um in heterogenen Teams gute Ergebnisse für Forschung und Innovation zu erzielen. Darauf bauen sie Empfehlungen auf, von denen Forscherinnen und Forscher in ganz Deutschland profitieren können – illustriert anhand des Beispiels vom Bahnhof, für den viele Gruppen ganz unterschiedliche Pläne haben.
Detaillierte Analysen des Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationssystems gehören seit jeher fest zum Repertoire des Stifterverbandes. In seinen Jahrbüchern und Almanachen hat er bereits damals zusammengetragen, wie es – kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges – um die deutsche Wissenschafts- und Forschungslandschaft stand.
Heute kumuliert der Stifterverband die von ihm erhobenen und zusammengetragenen Daten in einem neuen digitalen Datenportal, dem Daten-Navigator. Es bildet die Grundlage für umfangreiche Analysen, mit denen der Stifterverband politische Debatten anstößt und konkrete Handlungsempfehlungen gibt. Als einzige Institution in Deutschland erhebt der Stifterverband bereits seit 1949, wie viel die deutsche Wirtschaft jährlich in Forschung und Entwicklung investiert.
Er liefert damit wichtige Informationen über die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Seit Mitte der 1970er-Jahre erfolgt die Erhebung im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die diese für die offizielle FuE-Meldung Deutschlands an internationale Organisationen wie die OECD oder EU nutzt. Neben den FuE-Aktivitäten der deutschen Wirtschaft finden sich im Daten-Navigator des Stifterverbandes aktuell:
EIN WIN-WIN FÜR FORSCHUNG UND ZUWENDUNGSGEBER
Drei Fragen an Otmar D. Wiestler,
Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft,
die zusammen mit dem Stifterverband
das Transferbarometer entwickelt hat.
Warum ist es wichtig, Transferaktivitäten besser messen und einschätzen zu können?
Spätestens seit der Covid-19-Pandemie wissen wir alle, wie wichtig sowohl der Technologietransfer als auch der Wissenstransfer für unsere Gesellschaft sind – neben dem Transfer von Technologien und Innovationen. In Deutschland sind zahlreiche Akteure aktiv, die Transfer sehr engagiert gestalten und voranbringen. Fakt ist aber ebenso, dass diese Transferleistungen oft noch unzureichend bewertet werden, weil es kaum Kenngrößen und Indikatoren gibt, die diese Leistungen adäquat abbilden. So verschenkt man Potenziale. Als Helmholtz- Gemeinschaft wollten wir deshalb dringend eine Lösung erarbeiten, mit der sich Transfer in all seinen Facetten messen lässt. Transfer ist ein zentraler Teil der Helmholtz-Mission und wir wissen mit unseren 18 Forschungszentren nur allzu gut, wie sehr sich beispielsweise der Transfer in der Polarforschung vom Transfer in der Gesundheitsforschung oder Teilchenphysik unterscheidet. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, haben wir uns gemeinsam mit dem Stifterverband entschieden, selbst Leistungsindikatoren zu defi nieren. Elf Institutionen haben dieses Barometer gründlich erarbeitet und erprobt. Sie haben gemeinsam eine Systematik entwickelt, der ein möglichst breites Transferverständnis zugrunde liegt. So entstand das Transferbarometer. Wissenschaftseinrichtungen können sich aus diesem Baukasten seit Januar 2022 passgenau die Indikatoren heraussuchen, die ihre eigenen Transferprofile und konkreten Zielsetzungen abbilden – oder sie dazu nutzen, für den Transfer notwendige institutionelle und instrumentelle Strukturen und Prozesse überhaupt erst aufzubauen.
Wie wichtig ist diese Initiative für die Forschungslandschaft?
Das Transferbarometer ist ein Win-Win-Projekt für Forschung und Zuwendungsgeber: Einerseits bedient es den legitimen Anspruch der Politik, die Transferaktivitäten öff entlich finanzierter Institutionen qualitätsgesichert zu erfassen. Andererseits lassen sich durch das Barometer Transferziele und -strategien einzelner Forschungszentren beziehungsweise einzelner -bereiche individuell herausarbeiten und weiterentwickeln, denn die deutsche Wissenschaftslandschaft ist sehr vielfältig. Einrichtungen, die im technologie- und wirtschaftsnahen Transfer glänzen, können dies mit dem Transferbarometer genauso dokumentieren wie Institutionen, die vor allem den Transfer in die Gesellschaft, Wissenstransfer und soziale Innovationen vorantreiben.
Konnte das Projekt Transferbarometer Ihren Erwartungen gerecht werden?
Ja, es ist uns gelungen, ein gut durchdachtes und breit einsetzbares Set von Transferindikatoren zu erarbeiten. In der Erprobungsphase von über mehr als einem Jahr hat sich dieses Set bereits bewährt. Den Kolleginnen und Kollegen vom Stifterverband bin ich hier sehr dankbar – die Abstimmung hat auf allen Ebenen wunderbar funktioniert. Allein das ist bei einer so großen Zahl an teils sehr unterschiedlichen Kooperationspartnern alles andere als selbstverständlich. Mit dem Ergebnis sind wir mehr als zufrieden. Ohne die besondere Expertise des Stifterverbandes an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft wäre das kaum möglich gewesen.