Wenn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei Tagungen und Konferenzen aufeinandertreffen, geht es beim Pausenkaffee oder beim Abendessen meistens um das aktuelle Forschungsprojekt: um die bürokratischen Herausforderungen der Drittmittelanträge und – natürlich – um die Publikationen, an denen man gerade arbeitet und die hoffentlich bald in einem renommierten Journal veröffentlicht werden. Klar, man möchte gerne Pflöcke einschlagen, will in der Wissenschaftscommunity wahrgenommen werden – ganz besonders, wenn man noch zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehört.
„Über Erfahrungen in der Lehre dagegen spricht man untereinander normalerweise kaum – gute Ideen für innovative Lehrveranstaltungen bringen halt nicht so viel Renommee“, bedauert Matthias Uhl. Der 41-jährige Volkswirt und Philosoph ist seit 2021 Professor für Gesellschaftliche Implikationen und ethische Aspekte der Künstlichen Intelligenz an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Wirtschaftsethik und Ethik der Digitalisierung möchte er auch seinen Studierenden nahebringen. Für ihn sind das sehr komplexe und wichtige Themen, mit denen sich Studierende der Informatik und Wirtschaftsinformatik oder der Betriebswirtschaftslehre vertieft beschäftigen sollten. Zu wichtig, um sie in einer Standardvorlesung abzuhandeln. Denn: „Was mir gerade besonders Spaß macht, ist, wenn ich den Eindruck habe, dass ich die Perspektive von Studierenden wirklich erweitere. Wenn sie plötzlich Positionen etwas abgewinnen können, die sie noch vor Kurzem als abwegig wahrgenommen haben.“
Lehre
Interaktives Spiel statt langweilige Vorlesung

„Gute Ideen für innovative Lehrveranstaltungen bringen nicht so viel Renommee. “
Hacking als Lehrveranstaltung
2014, als Uhl noch an der Technischen Universität München (TUM) als Nachwuchsgruppenleiter forschte und lehrte, lernte er dort den zwei Jahre älteren Wirtschaftsinformatiker Michael Schermann, ebenfalls Nachwuchswissenschaftler, kennen, der ähnlich dachte wie er. Schermann, der heute hauptberuflich im kalifornischen Silicon Valley im Bereich Finanzdienstleistungen arbeitet und nebenher an einer privaten Hochschule lehrt, bot damals in seinem Fach eine Lehrveranstaltung über SAP-Systeme an. „Um das Ganze etwas weniger langweilig zu machen, habe ich daraus eine White-Hat-Hacker-Veranstaltung gemacht. Die Studierenden sollten sich in die Rolle von Hackerinnen und Hackern versetzen, die mit guten Absichten in Softwaresysteme eindringen und Schwachstellen in einem Finanzsystem aufdecken oder Datenmanipulationen aufspüren, um zu verstehen, wie Buchungen im SAP-System funktionieren.“
Den Studierenden habe der „White-Collar Hacking Contest“ sehr gefallen, erinnert sich Schermann schmunzelnd. „Aber die TU München hatte doch etwas Bedenken, weil wir die jungen Leute ja quasi zu kriminellen Handlungen animierten.“ An dieser Stelle kam Matthias Uhl als Wirtschaftsethiker für die Lehrveranstaltung als Partner ins Spiel. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich mit experimenteller Wirtschaftsforschung: „Wie reagieren Leute auf Anreize? Wie lassen sie sich zu Dingen – auch zu unethischem Verhalten – verleiten, die sie eigentlich ablehnen?“, beschreibt Uhl einige Aspekte.
Dieser Input aus der Wirtschaftsethik war inhaltlich die perfekte Ergänzung und Weiterentwicklung für die schon bestehende Lehrveranstaltung. Das ursprüngliche Prinzip – Team A wird kriminell, Team B deckt es auf, anschließend werden die Rollen getauscht und am Ende alle Vorgänge in einem Paper dokumentiert – blieb dabei erhalten. Als Partner aus der Praxis holten Uhl und Schermann Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftsprüferinnen renommierter Firmen für Vorträge in die Lehrveranstaltung. „Sie haben den Realitätskontext geliefert und konnten bestätigen: Das, was die Studierenden in unserer Lehrveranstaltung als Hacker beziehungsweise Hackerinnen entwickelt haben, war gar nicht so weit von der Realität entfernt“, sagt Uhl.
Seminar als interaktives Spiel
Deshalb habe es gutgetan, sich über dieses „Neuland“ auszutauschen. Warum die Lehrveranstaltung so wichtig ist, begründet Uhl so: „Aus Sicht des Ethikers fiel mir bei Lehrveranstaltungen immer wieder auf: Bei den Studierenden gibt es frappierende Empathielücken. Werden Skandale wie etwa der Diesel-Skandal von Volkswagen oder der Wirecard-Skandal aufgedeckt, reagieren sie mit Empörung und Unverständnis.“ Was ihnen aber oft fehle, sei die Vorstellungskraft dafür, wie schnell man selbst in solche Prozesse hineingeraten könne. „Unsere Lehrveranstaltung bediente sich deshalb der Technik der Immersion – also einer interaktiven Spielsituation, die die Studierenden dazu brachte, sich in ein kriminelles Verhalten hineinzusteigern. Andererseits konnte man auch beobachten, wie man selbst und andere plötzlich glaubten, ein gewisses kriminelles Genie in sich zu entdecken.“
Eine weitere Erkenntnis von Schermann und Uhl aus den Fellowtreffen ist: Best Practices anderer Fächer sind durchaus auf das eigene Fach übertragbar, wenn man seine Komfortzone verlässt. Schermann nennt ein Beispiel: „Wir haben die Idee eines Peer-Review-Verfahrens unter den Studierenden aufgegriffen: Die Studierenden lesen dabei die Arbeiten der jeweils anderen und bewerten diese. Das fördert unter anderem das Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten.“
Auch Schermann hat Ideen aus dem „White-Collar Hacking Contest“ mit an die private Santa Clara University genommen, an der er in Kalifornien neben seinem Hauptjob unterrichtet. Er integrierte sie in die Veranstaltung „Financial Information Systems“. Und wie wäre es perspektivisch mit einer gemeinsamen Onlinelehrveranstaltung zwischen Ingolstadt und Santa Clara? Die Covid-19-Pandemie hat ja gezeigt, dass solche Kurse plötzlich das neue Normal sind. Beide lachen. „Klar, ausgeschlossen ist das nicht – wenn wir das mit den neun Stunden Zeitunterschied hinbekommen.“
Was Schermann nach seinen Erfahrungen mit dem Fellowship im Nachgang aber vor allem wichtig ist: „An den Treffen haben so viele Kolleginnen und Kollegen mit ähnlich verrückten Ideen wie der unseren teilgenommen. Man müsste all das schriftlich festhalten. Dann hätte man einen riesigen Katalog der Inspiration für andere Lehrende zusammen.“
