Herr Pfundner, Sie sind Pharmazeut. Sehen Sie sich eigentlich als MINT-Absolventen?
Ich würde mich am ehesten in den Naturwissenschaften verorten. In der Regel sind ja an den Universitäten klassische Chemie und Pharmazie in einer gemeinsamen Fakultät zusammengeführt. Letztlich ist Pharmazie ein Fach, in dem aus vielen Bereichen etwas enthalten ist.
Welche Absolventinnen und Absolventen suchen Sie bei Roche – sind das vor allem Pharmazeutinnen und Pharmazeuten?
Wir haben drei große Bereiche. Der eine ist die klassische Pharmazie und Biotechnologie. Dann haben wir die Medizintechnik, in der es vor allem um die Diagnostik geht. Und schließlich als dritten Bereich haben wir die Informationstechnologie, also vor allem die Datenverarbeitung. Wir suchen also ein breites Spektrum an Kompetenzen: neben pharmazeutischer und medizinischer Kompetenz auch solche aus dem Ingenieurwesen, der Informatik, der Chemie, Biologie, Physik und Mathematik.
MINT-Fachkräfte
„Bildung sollte Fortschritt ermöglichen, nicht umgekehrt“

MINT-Fachkräfte sind nach wie vor stark gefragt – doch die Aufgabenfelder wandeln sich und die Hochschulen stellen sich nur schleppend darauf ein, meint Hagen Pfundner, Vorstand von Roche. Ein Gespräch darüber, wie man junge Menschen für ein MINT-Fach begeistern kann und was Bierbrauen mit Pharmazie zu tun hat.
Moment: Was genau machen denn die Brauer in der Pharmaindustrie?
Wir bauen gezielt körpereigene Stoffe nach, zum Beispiel Antikörper. Antikörper werden eigentlich im Körper produziert, mit ihnen setzt sich das Immunsystem gegen Körperfremdes zur Wehr, also etwa gegen Tumorzellen. Heute lassen sich solche Antikörper synthetisch erzeugen: Man entwirft sie am Computer und kann sie dann biotechnologisch herstellen, beispielsweise durch Fermentationsverfahren. Und die Fermentation ist etwas, was jeder Brauer beherrscht.
Bedeutet der Blick auf das neue Studienfach, dass sich die Hochschulen ändern müssen?
Hochschulen sollten Wissenschaftskenntnisse immer auch im Kontext ihrer Anwendung vermitteln. Da gibt es noch viel mehr Beispiele als die industrielle Biotechnologie: Warum müssen wir Ingenieurinnen und Ingenieuren pharmazeutische Grundkenntnisse beibringen? Oder Informatikerinnen und Informatikern medizinische Sachverhalte? Heute gibt es die Möglichkeit, solches Wissen in einem neuen Studiengang zu bündeln! Duale Hochschulen mit ihrer engen Verzahnung in die Praxis greifen solche Impulse und Veränderungen schon recht gut auf. Klassische Hochschulen haben hier noch Potenzial. Curricula müssen sich dynamisch entwickeln können, damit sie auch mit dem technologischen Fortschritt mithalten. Bildung sollte Fortschritt ermöglichen, nicht umgekehrt.
„Curricula müssen sich dynamisch entwickeln können, damit sie auch mit dem technologischen Fortschritt mithalten.“

Wie wichtig sind vor diesem Hintergrund Quereinsteiger für Sie?
Wir stellen Menschen mit Grundprofilen ein, die sie dann weiterentwickeln – on the job oder durch Weiterbildung. Da reden wir zum Beispiel von Ingenieurinnen und Ingenieuren, die zwar technisch sehr fit sind, aber erst erlernen müssen, wofür die Technik eingesetzt wird. Oder von Medizinerinnen und Medizinern, die wissen, wie man einen Körper heilt, aber die Mittel dazu nicht herstellen können.
Nun sind das Beispiele von Fachleuten, die schon sehr nah dran sind an den Qualifikationen, die Sie benötigen. Aber nehmen wir zum Beispiel einen Politologen ...
… und das ist ein sehr gut gewähltes Beispiel, denn ich habe in den vergangenen Jahren sehr eng mit einer Kollegin zusammengearbeitet, die Politik und Kunst studiert hat. Wir stellen auch Lehrerinnen und Lehrer ein. Wenn jemand eine hochqualifizierte Ausbildung hat, bringt er fast immer die wichtigsten Grundvoraussetzungen mit. Unser Konzernchef zum Beispiel ist Jurist und Volkswirt – und leitet die globale Forschung von Roche.
Seit wann eigentlich rufen Unternehmen in Deutschland so nachdrücklich nach mehr MINT-Fachkräften?
Es ist ein Phänomen der zurückliegenden ein, zwei Dekaden. Als ich Abitur gemacht habe, wollten alle Medizin studieren, auch Chemie und Biologie waren interessant. Es gab bei uns im Abiturjahrgang ein sehr breites Spektrum an Fächern, für das wir uns eingeschrieben haben. Wenn ich das vergleiche mit dem Jahrgang meiner Tochter, die vor wenigen Jahren von der Schule abgegangen ist – da wollten von fast 50 Abiturientinnen und Abiturienten gerade einmal eine Handvoll eine Naturwissenschaft studieren. Eine Handvoll! Deshalb sind die Anstrengungen für mehr MINT-Studierende nötig.
Fruchten sie denn auch?
Meines Wissens sehen wir in den MINT-Fächern kein Wachstum, nein. Was mir eher Sorgen macht, ist ein schleichender Rückgang in den MINT-Fächern.
„MINT ist die Grundvoraussetzung – aber es braucht eben noch mehr.“

Gibt es Chancen, doch noch mehr junge Leute für ein MINT-Studium zu begeistern?
Das mit dem Begeistern ist ein gutes Stichwort: Ich glaube, wir müssen einfach Lust auf Wissenschaft machen. Zeigen, dass das Wissen tatsächlich den Menschen nutzt, dass man sich am Innovationsprozess beteiligen kann. Dass man in den so wichtigen Bereichen Nachhaltigkeit und Energie mitwirken kann. Ich halte ja selbst an der Universität in Freiburg Vorträge, und da erzähle ich den jungen Studierenden auch etwas über mein Berufsleben und darüber, wie spannend es ist, in der Forschung tätig zu sein, etwas zu bewirken und aus Wissen und Technik konkrete Lösungen und Produkte für die Menschen zu entwickeln.
Nun tragen Sie da aber vor Leuten vor, die sich ohnehin schon für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden haben, damit gewinnen Sie ja keine neuen Studieninteressenten und -interessentinnen.
Wichtig ist: Der Ansatzpunkt liegt bei den jungen Leuten, und die müssen wir begeistern. Ich sehe da übrigens auch Unternehmen in der Verantwortung. Über Praktika und Berufsorientierung in der schulischen Phase können wir viel erreichen. Nun schaut natürlich jede einzelne Firma, ob sich der Aufwand für sie lohnt, wenn die Schülerinnen und Schüler nachher ganz woanders arbeiten. Aber ich glaube, dass das eine kollektive Aufgabe für die Wirtschaft ist: Wir müssen begeistern.
Daten zur MINT-Bildung
Der Bedarf an Personal mit technologischen Kompetenzen wächst: Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse von Stifterverband und McKinsey. Demnach werden bis 2026 mehr als 780.000 Personen mit Expertise in den Bereichen Data Analytics und KI bis hin zu Hardware-/Robotik-Entwicklung benötigt. Besonders für Deutschland sind Personen mit technologischen Kompetenzen von zentraler Bedeutung: 25 Prozent der Bruttowertschöpfung stammen hierzulande aus MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft & Technik). Herausforderungen wie Digitalisierung, Mobilitätswende und Klimawende werden sich nicht ohne MINT-Kräfte bewältigen lassen. Diese und weitere Ergebnisse zum Thema MINT-Bildung gibt es im Hochschul-Bildungs-Report, der im Frühjahr 2022 erscheinen wird.
Mit dessen finaler Ausgabe schließt der Stifterverband seine Bildungsinitiative Zukunft machen ab. Auf sechs Handlungsfeldern, wie unter anderem der MINT-Bildung, hatte er darin über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht, wie sich die deutsche Hochschulbildung entwickelt, dabei Herausforderungen identifiziert und selbst Programme und Initiativen aufgelegt, um der Hochschulbildung mehr Richtung und Substanz zu geben. Weitere Daten zum Hochschul-Bildungs-Report und zum Thema Internationale Bildung gibt es im Daten-Navigator, dem Datenportal des Stifterverbandes.
