Herr Sattelberger, Sie haben Soziologie und Betriebswirtschaft studiert. Wünschen Sie sich manchmal, Sie hätten auch in ein MINT-Fach reingeschnuppert?
Ich denke mein Leben lang weniger in Fächern, sondern in Erfahrungen. Und da gibt es tatsächlich etwas, das ich in einem beruflichen Leben unheimlich gern gemacht hätte: Ich wäre gern bei einer Deep-Tech-Gründung dabei gewesen. Sicher hätte ich da vor allem meine betriebswirtschaftliche und Transformationserfahrung eingebracht, aber in so einem Gründungsprojekt lernt man ja zwangsläufig auch viel über Technologie.
Das hat aber mit akademischer Bildung wenig zu tun.
Genau das ist doch der Reiz! Mich fasziniert der Gedanke, Aufgaben ganzheitlich anzugehen und mit anderen zu lösen. Eines der Projekte, mit denen ich mich gerade beschäftige, sind Maker-Garagen für Schulen …
MINT-Fachkräfte
„In einer digitalen Gesellschaft braucht man kreative Experimentierwerkstätten statt standardisierter Effizienzmaschinen“

Der Film, in dem eine Gruppe von Schülern mit ihrem Lehrer aus dem Korsett der Schule ausbricht?
Genau der. Schüler und Lehrer erschaffen darin eine neue Welt, in der es kreativer, schöpferischer, spielerischer, kollaborativer zugeht als im klassischen Unterricht, in dem bloß Lesen, Schreiben, Rechnen und saubere Fingernägel zählen. Das lässt sich auf unsere Situation übertragen: In einer Industriegesellschaft gilt – überspitzt gesagt – das Prinzip Vormachen, Nachmachen, Repetieren, Üben. Das reicht aus. Aber in einer digitalen Ökonomie, in einer digitalen Gesellschaft braucht man kreative Experimentierwerkstätten statt standardisierter Effizienzmaschinen. Und die Bildung muss das widerspiegeln.
„Das Lernen für die digitale Welt ist ganz anders als das eher industriell geprägte, das wir aus den Schulen kennen: Es geht um Zusammenarbeit und nicht um Überordnung und Unterordnung von Lehrerin oder Lehrer zu Schülerin oder Schüler. Lernen auf Augenhöhe, Coaching statt Instruktion, Versuch und Irrtum statt Perfektion. “

Der Gedanke ist aber doch nicht neu. Das Studium generale ist ein uraltes Konzept, und schon im 19. Jahrhundert war ein Hermann von Helmholtz nicht nur Arzt und Naturwissenschaftler, sondern spielte täglich auch eine Stunde Klavier. Da war der Bildungsbegriff doch schon viel breiter, oder?
Bildung muss ja unterschiedlichen Ansprüchen genügen. Zum einen haben wir das Recht auf Bildung. Das führte dazu, dass unter dem Schlagwort des Bildungsnotstands in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts reihenweise (Fach-)Hochschulen gegründet worden sind, eine riesige Welle war das. Zweitens wurden Absolventinnen und Absolventen ja auch nachgefragt, gebraucht. Die Schulen und Hochschulen mussten über viele Jahre hinweg so viele Leute ausbilden, dass die allemal rudimentär gelebten humboldtschen Ideale immer mehr verschwanden. Aus elitären, oft auch ständisch geprägten Hochschulen wurden zum Teil Mega-Anstalten mit Massenveranstaltungen zur Produktion und Reproduktion von Wissen. Ich nenne das die Industrialisierung des Hochschulsystems.
Sie sprechen davon in der Vergangenheitsform. Ist das heute anders?
Nein, aber einige Hochschulen haben kapiert, dass man eine Art Humboldt 2.0 hinbekommt, wenn man die Potenziale der Digitalisierung voll nutzt. Digitale Lernplattformen mit tutoriellen und lernalgorithmischen Assistenzsystemen helfen bei dem individualisierten Wissenserwerb, sodass damit Kapazitäten frei werden – Kapazitäten, die sich für das Experimentieren, Reflektieren, Probleme lösen nutzen lassen.
Viele der ausgewählten Projekte haben einen vergleichsweise überschaubaren Umfang, betreffen aber nicht die gesamte Hochschule.
Aber mit ihnen gelingt es, einen Fuß in die Tür zu stellen! Das ist ungemein wichtig, denn nur so kann man den Raum öffnen. Mein Wunsch wäre es allerdings, dass solche Ansätze, wie wir sie in diesem Projekt fördern, zukünftig in ein konzeptionelles Gebäude eingebettet werden und zu einem Teil des übergreifenden Leitbildes einer Hochschule werden. Das alles macht der Stifterverband sehr geschickt, denn hier gilt das alte Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Hochschulen stehen gerade vor gewaltigen Umbrüchen, und da sind solche Impulse unheimlich wichtig.
Haben die angelsächsischen Länder nur die bessere Abkürzung oder auch die besseren Konzepte? Denn was die Umbrüche im Bildungssystem angeht, die Sie erwähnt haben – vor denen stehen in Anbetracht der digitalen Herausforderungen ja alle Länder.
Uns in Deutschland hat der hohe Anteil industrieller Fertigung durch zwei Krisen in jüngerer Zeit geholfen. Offensichtlich hat er aber zugleich die frühzeitige Diversifikation und den Fokus auf Zukunftsbranchen – etwa künstliche Intelligenz, Biotech, Raumfahrt – verlangsamt, wenn nicht gar verhindert. Für uns in Deutschland sind Maschinen-, Anlagen- und Autobau sowie die Chemie das Standbein. Aber das Spannende ist: Länder, die sich neben solchen Standbeinen auch noch neue Spielbeine im Bereich der Plattformökonomie und der neuen Technologien aufgebaut haben, verfügen oft über die deutlich besseren Bildungssysteme, auch und gerade bei digitaler und MINT-Bildung. Meine Hypothese lautet deshalb: Es gibt eine kausale Verbindung zwischen der technologischen Diversifikation eines Landes und der (digitalen) Experimentierkultur im Bildungswesen. Die größere Experimentierfreude in Schulen und Hochschulen ist genau das, was ich mir für Deutschland wünsche – und dazu wollen wir ja mit dem Wettbewerb MINTplus – plusMINT beitragen.
DER STIFTERVERBAND WILL MINT-POTENZIALE HEBEN
Der Stifterverband ist überzeugt: Um Wirtschaft und Gesellschaft resilient und zukunftsfähig auszurichten, spielt die MINT-Bildung (MINT= Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) eine entscheidende Rolle. Um die MINT-Potenziale der Gesellschaft zu heben, setzt sich der Stifterverband gemeinsam mit Partnern unter anderem dafür ein, ausreichend MINT-Fachkräfte auszubilden, zu halten und mit entsprechenden Zukunftskompetenzen zu qualifizieren. Dazu fördert er aktuell unter anderem:
- Datenanalyse und Datenverständnis als Querschnittskompetenz durch das Programm Data Literacy Education
- Kompetenzen für Quantencomputing durch Curriculumsentwicklung und (außerschulische) Bildungsangebote
- Mathematiktalente über die Bundesweiten Mathamatik-Wettbewerbe von Bildung & Begabung
